Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
es für ihn hätte kommen können. Er war wütend und verbittert. Und er schwor sich, dass das Leben ihm einiges schuldig war, wenn er rauskommen würde.
Was wir verlieren …
I m Sommer 2003 saß ich wieder einmal beim Rebbe in der Küche. Seine Frau Sarah hatte uns eine Honigmelone aufgeschnitten. Der Rebbe, der zu seiner kurzen Hose ein weißes kurzärmliges Hemd, rote Socken und Sandalen trug – diese Kombinationen brachten mich inzwischen nicht mehr aus der Fassung –, hielt mir den Teller hin.
»Bedienen Sie sich«, sagte er.
Vielleicht später, danke.
»Kein Hunger?«
Später vielleicht.
»Ist aber gesund für Sie.«
Ich aß ein Stück.
»Und, schmeckt’s?«
Ich verdrehte die Augen. Er veräppelte mich mal wieder. Dass ich ihn drei Jahre nach unserem ersten Treffen immer noch besuchen würde, hätte ich freilich niemals angenommen. Wenn man um eine Trauerrede gebeten wird, vermutet man doch das baldige Ende.
Aber der Rebbe war wie ein robuster alter Baum; er beugte sich den Stürmen, doch er brach nicht. Im Laufe der Jahre hatte er die Hodgkin-Krankheit, eine Lungenentzündung, Herzrhythmusstörungen und einen kleinen Schlaganfall überlebt.
Damals verleibte er sich tagtäglich eine Handvoll Pillen ein, um seinen fünfundachtzigjährigen Körper zu schützen, darunter Herz- und Blutdruckmittel und etwas gegen weitere Schlaganfälle. Vor kurzem erst hatte er eine Gürtelrose gehabt, und nicht lange vor meinem Besuch hatte er sich bei einem Sturz einige Rippen gebrochen und war mehrere Tage im Krankenhaus gewesen. Sein Arzt hatte ihm geraten, ab jetzt überall einen Stock zu benutzen, zu seiner eigenen Sicherheit. Doch der Rebbe hörte nicht auf ihn, weil er fürchtete, seine Gemeindemitglieder könnten ihn für schwach halten.
Sobald ich auftauchte, konnte er es kaum erwarten, loszulegen. Und insgeheim war ich froh, dass er dem Verfall seines Körpers Einhalt gebot. Ich sah ihn nicht gerne schwächlich. Er war schließlich immer dieser große aufrechte und imposante Mann Gottes gewesen.
Und ich war selbstsüchtig genug, mir dieses Bild von ihm erhalten zu wollen.
Außerdem wusste ich nur zu gut, dass es auch anders ausgehen konnte. Acht Jahre zuvor hatte ich miterlebt, wie mein geliebter einstiger Professor Morrie Schwartz langsam an ALS starb. Ich besuchte ihn jeden Dienstag in seinem Haus bei Boston. Und obwohl sein Geist wach blieb, verfiel sein Körper von Woche zu Woche mehr – kaum acht Monate nach meinem ersten Besuch bei ihm war er tot.
Ich wollte, dass Albert Lewis – der im selben Jahr wie Morrie geboren war – länger am Leben blieb. Es gab noch so viele Fragen, die ich meinem ehemaligen Professor nicht mehr hatte stellen können. Und so oft sagte ich mir: »Hätte ich doch nur ein bisschen mehr Zeit gehabt …«
Ich freute mich auf meine Treffen mit dem Rebbe – ich saß dann wieder in dem großen grünen Sessel, während er in dem Tohuwabohu auf seinem Schreibtisch irgendetwas suchte. Manchmal flog ich direkt von Detroit nach Philadelphia. Aber meist fuhr ich am Sonntagvormittag von New York aus mit dem Zug zu ihm. Da ich dann immer zu der Zeit eintraf, in der gerade Gottesdienst war, fühlte es sich ein wenig an, als hielten wir unseren eigenen kleinen Gottesdienst ab – zwei jüdische Männer, die über Religion reden.
Meine Freunde reagierten neugierig oder ungläubig auf diese Gewohnheit.
Du gehst zu ihm nach Hause, als sei er ein ganz gewöhnlicher Mensch?
Fühlst du dich da nicht sehr unwohl?
Musst du beten, während du dort bist?
Und ihr redet tatsächlich über seine Trauerrede? Ist das nicht furchtbar morbide?
Vermutlich war das tatsächlich nicht so ganz gewöhnlich, was ich da machte. Und ich hätte die Besuche beim Rebbe nach einer Weile auch einstellen können, denn ich hatte bereits genug Material für eine Hommage.
Aber ich hatte das Bedürfnis, ihn weiter zu besuchen, mich zu versichern, dass meine Aufzeichnungen immer noch mit ihm als Person übereinstimmten. Und, nun gut, da war auch noch etwas anderes. Er hatte etwas in mir wachgerüttelt, das lange geschlummert hatte. Der Rebbe wurde nicht müde, seine Religion zu preisen, die er »unseren wunderbaren Glauben« nannte. Wenn andere so etwas sagten, wurde mir immer unbehaglich zumute, weil ich keiner Gruppe zugeordnet werden wollte. Doch es hinterließ einen tiefen Eindruck bei mir, den Rebbe in so hohem Alter als so freudvoll zu erleben. Mir bedeutete der Glaube vielleicht weniger, doch für ihn
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