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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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war er ausschlaggebend, um in Frieden mit sich selbst leben zu können. Ich kannte nicht viele Menschen, denen das vergönnt war.
    Deshalb besuchte ich ihn weiter. Wir redeten, lachten, erörterten alte Predigten von ihm. Er konnte einen so ansehen, dass man das Gefühl bekam, die Welt stehe still und nur man selbst sei in diesem Augenblick wichtig.
    Das war vielleicht seine besondere Gabe für seinen Beruf.
    Oder vielleicht war es auch die Gabe des Berufs für ihn.
    In dieser Lebensphase war er sehr oft mit Zuhören beschäftigt. Seit er nicht mehr leitender Rabbiner war, hatte er weniger Termine und weniger Papierarbeit als früher. Die Gemeinde funktionierte nun auch gut ohne ihn – ganz anders als das bei seiner Ankunft der Fall gewesen war.
    Im Alter hätte er natürlich auch in wärmeren Gegenden leben können, wie in Florida oder in Arizona. Aber das interessierte ihn nicht. Einmal hatte er an einem Kongress von Rabbinern im Ruhestand in Miami teilgenommen und sich gewundert, wie viele seiner einstigen Kollegen nun dort lebten.
    »Warum habt ihr eure Gemeinden verlassen?«, hatte er sie gefragt.
    Sie antworteten, dass es sie schmerze, nicht mehr selbst am Rednerpult stehen zu können. Oder die jüngeren Geistlichen sähen es nicht gerne, wenn sie noch dort herumlungerten.
    Der Rebbe – der das Ego als größte Bedrohung für einen Geistlichen erachtete – beneidete nichts und niemanden. Als er in den Ruhestand trat, räumte er freiwillig sein großes Büro und bezog ein kleineres. Und eines Tages, am Schabbat, setzte er sich in der Synagoge nicht mehr auf den hohen Stuhl auf der Estrade, sondern ließ sich neben seiner Frau in der hintersten Bank nieder, worauf die Gemeinde sehr erstaunt reagierte.
    Aber wie John Adams, der nach dem Ende seiner Präsidentschaft auf seine Farm zurückkehrte, mischte der Rebbe sich im Alter einfach wieder unters Volk.
Aus einer Predigt des Rebbe (1958)

    »Ein kleines Mädchen brachte von der Schule eine Zeichnung mit nach Hause und lief in die Küche, wo die Mutter gerade das Essen zubereitete.
    ›Rate mal, Mam!‹, rief das Mädchen und schwenkte seine Zeichnung.
    Die Mutter schaute nicht auf. ›Was denn?‹, fragte sie nur und rührte weiter in den Töpfen.
    ›Rate doch mal!‹, sagte das Kind wieder und wedelte weiter mit der Zeichnung.
    ›Was denn?‹, fragte die Mutter und nahm die Teller aus dem Schrank.
    ›Du hörst mir ja gar nicht zu, Mam.‹
    ›Aber doch, Schatz.‹
    ›Mam‹, sagte das Mädchen, ›du hörst aber nicht mit den Augen zu.‹«

Henrys Leben

    R ikers Island im East River, unweit vom LaGuardia Airport, war Henrys erster Aufenthaltsort hinter Gittern. Die Strafanstalt war nur wenige Kilometer von seinem Zuhause entfernt, was ihm noch deutlicher zu Bewusstsein brachte, dass er durch seine eigene Dummheit auf der falschen Seite dieser Mauern gelandet war.
    Während seiner Zeit dort sah Henry vieles, von dem er sich wünschte, es nie gesehen zu haben. Er erlebte, wie andere Häftlinge angegriffen und vergewaltigt wurden und man ihnen eine Decke über den Kopf warf, damit sie ihre Peiniger nicht sehen konnten. Eines Tages boxte ein Typ Henry einfach ins Gesicht, weil er Streit mit ihm gehabt hatte. Zwei Wochen später versuchte derselbe Mann Henry mit einer geschärften Gabel zu stechen.
    Henry hätte am liebsten die ganze Zeit geschrien, dass er unschuldig sei, aber was hätte ihm das genützt? Die anderen behaupteten ja dasselbe. Nach etwa einem Monat wurde Henry ins Elmira Correctional, ein Hochsicherheitsgefängnis, verlegt. Er aß wenig und schlief kaum, rauchte aber viel. In einer heißen Nacht wachte Henry schwitzend auf und wollte sich etwas Kühles zu trinken holen. Als er jedoch richtig wach wurde, sah er die Stahltür. Da sank er auf sein Bett zurück und weinte.
    In dieser Nacht fragte Henry Gott, weshalb er nicht schon als Baby gestorben war. Irgendein Lichtschein fiel in die Zelle und lenkte Henrys Blick auf die Bibel. Er schlug sie auf und las die Stelle im Buch Hiob, als Hiob den Tag seiner Geburt verflucht.
    Henry hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass der Herr zu ihm gesprochen hatte.
    Aber Henry wollte ihm nicht zuhören.

JUNI
Gemeinde

    N achdem der Rebbe seine Melone aufgegessen hatte, begaben wir uns in sein Büro, in dem das altvertraute Tohuwabohu aus Kisten, Notizen, Briefen und Akten herrschte. Hätte der Rebbe sich an diesem Tag besser gefühlt, hätten wir vermutlich einen Spaziergang gemacht. Er ging gerne in seiner

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