Dann fressen sie die Raben
Bäume blühen gleichzeitig, Flieder und Birken, Löwenzahn und Linden und meine geliebte Silberpappel hier am Bach. Ich sitze in einem Sommerkleid und in Sandalen auf der Schaukel, spüre den leichten Wind in dem dünnen Flaum auf meinem Kopf, freue mich, dass ich all diese Düfte wieder riechen kann, und betrachte die dicken wolligen Blütenflusen, die durch die Luft segeln. Nach einer Weile atme ich tief durch, stoße mich mit den Füßen ab, strecke sie nach vorne, aber mir wird wie bei meinen letzten Versuchen sofort so schwindelig, dass ich die Schaukel wieder stoppe und warten muss, bis das Kreiseln in meinem Kopf aufhört.
Das sind die Nachwehen von dem Schlag auf meinen Schädel und vom Sturz in der Desinfektionskammer, in der ich gestorben wäre, wenn mich John nicht gerettet hätte. John. John, an den ich so oft denke. Ironischerweise hatte ich kurz vor meiner Ohnmacht den Notschalter getroffen, womit ich das Absaugen der Luft aus der Desinfektionskammer zwar abgeschaltet habe, aber trotzdem wäre ich heute tot, wenn John und Oliver nicht um mein Leben gekämpft hätten wie die Löwen. Von dem Schlag hatte ich eine Hirnblutung und mein Schädel musste geöffnet werden.
An all das kann ich mich nicht klar erinnern, das Letzte, was ich wirklich noch deutlich vor mir sehe, sind die Flüchtlinge, die mich in dem Raum hinter der Tür im Arabellapark so entsetzt angestarrt haben. Alles danach ist im Nebel, der sich nur langsam lichtet. Von Pa weiß ich, was passiert ist, während ich operiert wurde und danach. Aber jeden Tag kommt ein bisschen mehr Erinnerung zurück. Seit der Reha kann ich wieder laufen und sprechen und sogar schreiben. Doch ich habe so viel Schulunterricht verpasst, dass ab jetzt bestimmt keiner mehr Superhirni zu mir sagen wird. Allerdings will Feli den verpassten Stoff in den Sommerferien mit mir durchgehen, was ein bisschen verkehrte Welt sein wird, denn normalerweise war ich immer diejenige, die ihr alles erklärt hat. Aber damit müssen wir noch warten, denn im Moment darf Feli mich jeden Tag nur für eine halbe Stunde besuchen, mehr erlauben die Ärzte noch nicht.
Ich stehe auf und gehe langsam und noch ein bisschen wacklig, aber immerhin allein zurück zum Haus. Pa und ich müssen heute nach München, zur Nachuntersuchung im Krankenhaus und noch mal zu Frau Koslowsky, wo ich über das, was passiert ist, endlich eine Aussage machen soll. Das haben Pa und Oliver bis jetzt verhindert und ich bin froh darüber. Froh bin ich auch, dass Alex wirklich ausgepackt hat, was dazu geführt hat, dass er und Dennis wegen Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft und wegen Förderung des Menschenhandels verhaftet wurden, wie das amtsdeutsch heißt. Am allermeisten aber freut es mich, dass die Polizei die Menschen in den Räumen, die ich gesehen habe, nicht erwischt hat. Ich hoffe, dass sie es schaffen hierzubleiben, ohne in die Hände von anderen Ausbeutern zu fallen.
Nach Johns Aussage ist die Leiche von Kimoni exhumiert worden und danach wurde Dennis auch noch wegen Anstiftung zum Mord und Amari wegen Totschlags verhaftet. Amari, Dennis und Alex sitzen im Gefängnis und warten auf ihre Verhandlung.
An John habe ich zwar oft gedacht, doch sein Gesicht habe ich lange nur schattenhaft vor mir gesehen, mit der Zeit wurde es dann immer deutlicher und ich habe mir gewünscht, dass er hier wäre und mich mit seinem leicht singenden Deutsch tröstet. Aber ich habe meine Eltern nie nach ihm gefragt, weil ich Angst vor dem hatte, was ich dann erfahren könnte, und jetzt wünsche ich mir umso mehr, dass er da wäre. Es gibt so vieles, über das ich mit ihm reden möchte, über sein Land und seine Eltern, aber auch über den Tod seines Bruders und den meiner Schwester und darüber, was das mit einem macht.
Meine Schwester wurde beerdigt, während ich noch im Krankenhaus lag, und ich habe mir fest vorgenommen, so bald es geht, ihr Grab zu besuchen, auch wenn ich mich bei dem Gedanken an sie fühle, als ob ich versagt hätte. So vieles ist nur deshalb passiert, weil ich unbedingt ihren Mörder finden wollte, und jetzt sieht es so aus, als ob ihre Mörderin nie verurteilt werden wird. Denn sie ist mit allen Wassern gewaschen und ihre Anwälte gehören zu den besten in Deutschland.
Zuerst haben sie versucht, John als Vergewaltiger hinzustellen, haben behauptet, er hätte ihr dort unten in der Bettenreinigungsanlage aufgelauert, um sie zu missbrauchen. Sie hätte sich nur gewehrt, die
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