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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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vor Amari und Dennis in Sicherheit gebracht hat. Wie sie dasaß, der zarte Oberkörper verhüllt mit dem schwarzen Müllsack, aus dem ihre malträtierten Beine heraushingen wie die einer weggeworfenen Schaufensterpuppe. Und doch hatte sie Haltung bewahrt. Sie war mutiger als er.
    Doch Mut hin oder her, der Gedanke daran, dass Samira sie in diesen Keller gelockt haben könnte, beunruhigt ihn maßlos. Was Ruby dort alles zustoßen könnte.
    Er steigt nicht mit den anderen in den Aufzug, rennt zur Treppe und stürmt in den Keller, und auch wenn er weiß, dass Amari und Dennis ruhiggestellt in ihren Betten liegen, spürt er, dass seine Gazelle noch immer in Gefahr ist. Warum war Samira so außer Atem und so rosig im Gesicht und so gut gelaunt? Weil sie Ruby und damit alle Probleme, die ihr Bruder haben könnte, im Keller aus dem Weg geräumt hat?
    Er reißt die Tür auf und sprintet zur Bettenzentrale. Er wird sie finden. Egal, was er auch tun muss, er wird sie finden. Die Glastür der Bettenzentrale öffnet sich, vor ihm liegt alles im Dunkeln. Niemand scheint dort zu sein. Nichts. Nicht mal eine Ratte. Er geht an den Reihen der stinkenden Betten vorbei, doch er nimmt noch einen anderen Geruch wahr, nicht den von Ruby, deren Haut den Duft von frischem Brot und Gras verströmt, und auch nicht den von Samira, die nach Zitronengras duftet. Nein, hier riecht es süßlicher.
    Er geht weiter und dann hört er sie, die Schritte hinter sich, obwohl sie sich alle Mühe geben, leise zu sein. Er ist sicher, dass es kein Mann ist, der ihm folgt, dazu sind die Schritte zu klein, zu leicht, mehr Strauß als Büffel. Er tut so, als würde er nichts bemerken, und sieht sich nach einer Waffe um. Aber hier sind nur Betten, Betten, nichts als Betten. Da. Etwas Metallisches blitzt auf. Lauter abmontierte Kopfteile. Er greift sich eins davon und dreht sich abrupt um. Nichts. Kann es sein, dass er sich die Schritte nur eingebildet hat?
    Kopfschüttelnd schleicht er weiter, hört ein Surren wie von einem Ventilator und sieht im gleichen Moment den Schalter der Desinfektionskammer, der rot aufleuchtet. Sein Herz zieht sich zusammen und er reagiert blitzschnell.
    Er hämmert auf den Schalter, das Licht schaltet auf Grün um, die Tür öffnet sich und da stürzt sie ihm auch schon entgegen, die Gazelle, und er weiß es einen Herzschlag später, er ist zu spät gekommen, sie ist tot. Sie ist tot.
    Er lässt die Stange fallen, geht in die Knie, um sie festzuhalten, ein Schluchzen entringt sich seiner Kehle, fassungslos hebt er sie hoch, sie ist so leicht, so warm, er legt seine Wange an ihre blutverschmierte Stirn. »Nein, nein. Nicht auch noch du …« Tränen laufen über sein Gesicht, er möchte sie schütteln, möchte sie zwingen, die Augen aufzumachen, zu atmen, aber er beherrscht sich und schmiegt sie nur sanft an sich. Doch dann kommt er zu sich, er muss sie hochbringen, hier sind so viele Ärzte, Dr. Brandt, vielleicht kann man sie zurückholen, so eine Art von Wunder können diese Ärzte vollbringen, das hat er selbst schon gesehen. Und er weiß, dass für dieses Wunder jede Minute zählt.
    Er dreht sich um, bereit, nach oben zu stürmen, doch da sieht er aus den Augenwinkeln ein metallisches Blitzen. Dann zischt eine Stange auf ihn nieder, es gelingt ihm nur knapp, den Kopf wegzudrehen, aber sie trifft ihn an der Schulter. Er stöhnt vor Schmerz, doch er wird Ruby niemals fallen lassen. Zusammen mit ihr geht er in die Knie, tastet nach der Stange, fasst sie und erhebt sich wieder, voll blinder Wut, bereit zu töten.
    Doch aufgerichtet sieht er seinen Angreifer direkt vor sich und ist außerstande, ihr den Schädel zu zertrümmern, und so schlägt er ihr die Stange nur in die Seite, sie verdreht die Augen und fällt um.
    Er lässt das Kopfteil fallen, umfasst Ruby noch enger und spurtet so schnell wie noch niemals zuvor durch die Gänge, zurück zur Station von Dr. Brandt, wartet nicht auf den Aufzug, rennt lieber die Treppen, denn so kann er nicht stecken bleiben. Seine Beine laufen wie von allein, befehlen seinem Herz ihren rasenden Takt, lassen ihn nach oben fliegen, und mit jeder geschafften Stufe steigt seine Hoffnung darauf, dass seine Energie Rubys Herz wieder entzünden wird. Schritt um Schritt, um Schritt befiehlt er diesem zarten Bündel auf seinem Arm lebe, lebe, lebe!

27. Kapitel
    Der Frühling hat lange auf sich warten lassen und jetzt ist es mit einem Schlag warm geworden, viel zu warm für Mitte Mai. Alle Büsche und

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