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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, was ich getan hätte.
    Später wollte Lina sich entschuldigen, aber das war mir zu billig. Wie einfach, erst großen Mist bauen und dann das Ganze mit einer lahmen Entschuldigung abzutun. Nur, weil sie daran gewöhnt war, sich alles erlauben zu können. Mit allem durchzukommen.
    Mein Vater legt mir wieder die Hand auf die Schulter. »Diese … diese Sache ist für uns alle ein harter Schlag. Anscheinend hat niemand bemerkt, dass es ihr so schlecht geht. Ich hätte …« Er verstummt und schaut mich hoffnungsvoll an. »Hat sie dir vielleicht etwas gesagt?«
    Natürlich nicht. Seit Merlin herrscht Funkstille zwischen uns.
    Als ich stumm bleibe, presst er enttäuscht die Lippen zusammen und räuspert sich dann. »Alex behauptet, dass sich Lina in letzter Zeit merkwürdig benommen hat.«
    Das lässt mich aufhorchen. Unser schnöseliger Stiefbruder, der gerade mal zwei Jahre älter als Lina ist, behauptet das also? Er wohnt ja nicht mal mehr zu Hause.
    »Und warum hat Mam nichts davon mitbekommen?«, frage ich.
    Pa fährt sich nervös mit der Hand durch seine lockigen grauen Haare. »Das verstehe ich auch nicht.« Er steht auf und wendet sich zur Tür. »Wir müssen jedenfalls sofort nach München fahren. Lina wird bald aufwachen und dann sollten wir alle bei ihr sein.«
    Oh ja, die ganze Familie gibt Linas dramatischer Inszenierung die Ehre! Ich sehe förmlich vor mir, wie sie ihre Augen theatralisch aufschlägt, eins nach dem anderen, und dann mit zarter Stimme »Wo bin ich?« murmelt, bevor sie sich umschaut und ein paar Tränen die Wange herabrollen lässt, perfekt schimmernd wie kleine Kristalle.
    »Es gibt also keinen Abschiedsbrief, oder?«
    »Nein.« Mein Vater schüttelt den Kopf. »Aber beeil dich jetzt. Und nimm was zum Übernachten mit.«
    Damit verschwindet er über die steile knarzende Holztreppe nach unten ins Erdgeschoss und ich wende mich widerwillig meinem Kleiderschrank zu.
    Während ich die Sachen zusammenpacke, denke ich an Lina. Ich habe sie nur selten vermisst und überhaupt nicht beneidet, als sie mit Mam in München geblieben ist. Mir gefällt es, auf dem Dorf zu leben, mit all den Bergen um mich herum. Papa und ich sind in unser früheres Wochenendhaus im Allgäu gezogen. Pa arbeitet von zu Hause aus als Architekt und sein Spezialgebiet ist der Umbau alter Bauernhäuser in Energiesparhäuser, wie das, in dem wir wohnen. Hinter den Wiesen unseres Hauses erkennt man eine Zwiebelkirche, deren Läuten mich morgens zuverlässig weckt, und auf einer Koppel hinter dem Haus grast mein Pferd Sonny, das ich vor vier Jahren zu meinem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekommen habe und das genauso aussieht wie das von Pippi Langstrumpf, weiß mit schwarzen Flecken. Es steht dort zusammen mit Rasputin, einem Islandpony, das Lina gehört und das ihr jetzt nur noch peinlich ist.
    Ich habe nie verstanden, wie Lina auf all das hatte verzichten können, nur um mit Mama und Oliver, unserem Stiefvater, und Alex im ach so coolen München zu bleiben.
    Plötzlich schnürt mir ein Gedanke die Kehle zu. Vielleicht hat sie ihre Entscheidung ja doch bereut? Vielleicht hatte sie nur Angst, das zuzugeben? Oder ihr hat einfach keiner zugehört?
    Mit Mam kann man nämlich nicht so gut reden wie mit Pa. Sie hört immer nur das, was ihr gefällt, alles andere blendet sie aus, als existiere es nicht. Selbst wenn sie gemerkt hätte, dass Lina todunglücklich war und lieber zu Pa wollte – sie hätte das einfach nicht wahrhaben wollen.
    Und ich hätte auch nichts mitbekommen. Meine Schwester und ich haben seit der Sache mit Merlin so gut wie keinen Kontakt mehr, denn ich habe mich seit einem Jahr geweigert, meine Mutter und Lina in München zu besuchen, und alles drangesetzt, damit Lina nicht zu uns kommt.
    Ich sinke auf mein Bett, wo unsere beiden großen Kuschelhasen sitzen. Lina hat ihren hiergelassen, er war ihr zu kindisch. Ich nehme sie beide in den Arm, meiner ist weiß, ihrer ist dunkelbraun, und vergrabe mein Gesicht in ihrem weichen Fell. Vor gefühlten hundert Jahren, als wir noch richtig klein waren, haben wir viel mit ihnen gespielt. Ich kann es heute kaum noch glauben, aber früher waren wir wie Zwillinge. Vielleicht, weil wir nur etwas mehr als ein Jahr auseinander sind.
    Ihr brauner Kuschelhase heißt Mr Singer und meinen weißen hat Lina den bösen Schenk getauft. Klar, dass meiner der Böse sein musste. Keine Ahnung, wie sie auf Schenk gekommen ist, aber wir beide waren uns

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