"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
sei zwar drastisch, aber sehr effektiv gewesen. Und so langsam beginne ich zu verstehen – nein, nicht nur zu verstehen, zu erfassen, zu fühlen, was sie damit gemeint haben könnte.
Das Verhältnis zu meiner Mutter ist die Antwort. Oder zumindest ein großer Teil der Antwort. Der Antwort auf meine Frage Nummer eins: Warum ich? Seitdem ich krank bin – nein, besser: Seitdem mir bewusst geworden ist, dass ich krank bin, stelle ich mir immer und immer wieder diese Frage: Warum verdammt nochmal ich? Warum bekommt ein gestandener, sozial extrem gut vernetzter, beruflich erfolgreicher Mann mit Ende dreißig Magersucht – eine Krankheit, auf die beinahe ausschließlich junge, desorientierte oder an ihrer Seele geschädigte Frauen und vor allem Mädchen abonniert sind? Die geradezu für Frauen reserviert ist? Natürlich gibt es auf diese Frage nicht diese eine Antwort, aber es gibt etwas, das alle Antworten irgendwie zusammenhält. Vieles von dem, was ich hier in diesem Buch aufgeschrieben habe, trägt natürlich zur Beantwortung dieser Frage bei – die Fresserei meiner Jugend, das ständige Gefühl des Mangels an Anerkennung, das ich durch Selbstaufopferung und Hingabe (also quasi durch Betteln um Anerkennung) auszugleichen versuchte, das rapide Abnehmen, um eine Frau und dann alle Frauen zu beeindrucken, das Gefühl der Kontrolle durch das selbstgesteuerte Abnehmen, die Nähe zum Leistungssport, letztlich auch die Akribie und Perfektion, mit der ich das eigene Runterhungern betreibe und betrieb.
All diese Dinge sind Puzzleteile in einem großen Bild. Doch in der Mitte dieses Bildes fehlte immer ein Stück, das entscheidende Stück, auf dem der Quell des Übels, die Wurzel des Giftbaums, der dunkle Stein der Macht zu sehen war.
Jetzt habe ich dieses Puzzleteil – glaube zumindest, es zu haben, denn es fügt sich perfekt ein, passt ins Bild.
Was des Rätsels Lösung ist? Warum ich mich zugrunde hungere?
Einfach gesagt: weil ich mich immer noch nach Mutters Liebe verzehre. Kompliziert gesagt: Ein gefühlter Mangel an Liebe durch die Mutter vermischt sich mit einer tief sitzenden Abneigung gegen die totale Vereinnahmung durch die Mutter. Die Magersucht, das Nicht-Essen, ist ein verzweifelter Versuch, mich ihrem Zugriff zu entziehen, ihr die Kontrolle über mich zu entreißen, selbst Kontrolle zu gewinnen und dabei etwas ganz Eigenes zu modellieren, zu skizzieren, zu formen. Einen neuen Christian sozusagen.
Auf diesem Weg verletzte ich viele und zog mir zahlreiche Verletzungen zu. Fast symbolisch war die Blutspur, die ich an der weißen Raufaserputzwand im Hofheimer Treppenhaus hinterließ und die lange nicht übertüncht wurde. An der Erstversorgung meiner Schnitt- und Schürfwunden konnte sich eine ganze Pflasterindustrie gesundstoßen. Aber das war nur Oberfläche.
Es ist auch festzuhalten, dass ich mich dadurch auch allen anderen zu entwinden suchte, von denen ich mich vereinnahmt und ausgenutzt fühlte – die aber wiederum nur Zugriff auf mich hatten, weil ich durch den Umgang mit meiner Mutter so verkorkst war. Sie können das in der Literatur nachschlagen – auch ich konnte das, aber ich dachte ja immer, das mag sich ja auf viele beziehen, aber nicht auf mich. Es steht in vielen Artikeln und Büchern zum Thema Anorexia: Der Ausbruch einer Magersucht sei in den meisten Fällen die Folge gravierender seelischer Konflikte, meist im familiären Umfeld. Nicht untypisch sei eine schwierige Beziehung zur Mutter, aus der Hassgefühle entspringen, die wiederum verdrängt werden. Was auf jeden Fall bleibt, ist ein mangelhaftes oder gestörtes Selbstwertgefühl. Uns fehlt das Urvertrauen, das glückliche Kinder haben. Viele Magersüchtige akzeptieren sich selbst nicht, wie sie sind. Darum suchen sie woanders nach Anerkennung, bei anderen Menschen. Wenn die Selbstliebe fehlt, sind die anderen aber machtlos. Der Hunger eines Magersüchtigen ist mächtig, sein Hunger nach Anerkennung und Liebe ist geradezu unstillbar. Ironischerweise macht diese Krankheit diesen Hunger auf die drastischste denkbare Weise sichtbar.
Durch sein Wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod macht der an Anorexia erkrankte sich immer irgendwie zum Thema. Er steht im Mittelpunkt, ob er will oder nicht. Und auch wenn er sich der Welt verschließt, weiß er doch, dass er nicht egal ist. Wäre er normal, wäre er wieder einer von vielen, untergetaucht in der breiten Masse. Aber so: Er ist etwas Besonderes. Der Spruch »Liebe geht durch
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