"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
allem Männer derart hartnäckig totschweigen, als gäbe es für sie seine Existenz gar nicht. Es ist eine Schablone, die auch auf andere Schicksale passt. Menschen, die von Betroffenen wissen, die sich im Verborgenen kaputthungern, können ihnen dieses Buch zeigen und sagen: »Ich weiß mehr über dich, als du denkst.« Das wird die Welt nicht verändern, aber es kann unbequeme Momente erzeugen, die vielleicht eine gewisse Sprengkraft für die Betroffenen bekommen. Das würde ich mir und ihnen wünschen.
Denn auch für mich ist dieses Buch bei aller Befreiung und Erleichterung eine Hypothek. Das Licht der Öffentlichkeit ist nämlich nicht nur Anerkennung, nach der ich mich ja tatsächlich sehne. Dieses Licht ist auch und vor allem ein Suchscheinwerfer, der mich fortan verfolgt und unter dessen grellem Schein ich an meinen Worten gemessen werde. Das heißt nicht, dass ich ab sofort wöchentlich bei RTL 2 zum Wiegen antreten oder sonstige Sperenzchen machen will. Aber: Ich habe es allen gezeigt – und ich werde es weiter zeigen müssen. Dass ich gesund werden will. Dass ich – jetzt muss ich das schon wieder sagen – dass ich zunehmen will.
Insofern ist dieses Buch tatsächlich eine Art und Weise, mich öffentlich zu produzieren, ja. Ich nutze aber die Öffentlichkeit als Mittel der sozialen Kontrolle, die in meinem Leben viel zu lange gefehlt hat oder von mir ignoriert wurde.
Und ja: Ich bereichere mich auch. Denn ich empfinde die Zahl meiner Zeugen und Verfolger als Reichtum, der mir lange gefehlt hat. Ich bin ihnen dankbar, denn sie tun etwas, das ich selbst viel zu lange unterließ: Sie achten auf mich.
Das zeigt Wirkung. Jetzt schon.
Kürzlich sagte meine Therapeutin zu mir, dass das Leben in mich kommt.
Ich sagte: »Mein zweiter Frühling …«
Sie sagte: »Ihr erster.«
Epilog
Warum die Magersucht
in kein Buch passt
Es geht mir besser, aber noch nicht gut.
Ich bin noch nicht da, wo ich hinwill, aber ich kenne den Weg. Doch, es gibt sie noch, diese Tage, an denen ich mich fühle wie ein Formel-1-Bolide auf der Pole-Position. Die roten Ampeln erlöschen, ich trete aufs Gas und: NICHTS ! Stillstand! Benzin alle, Motor geklaut, Reifen abmontiert. Es sind diese Tage, an denen ich mich wieder in alte Rituale flüchte um Halt zu suchen, an denen ich grüble und an Anna denke. Wohlwollend. Genüsslich. Ich funktioniere noch immer. Ich denke noch immer: Man will die Maschine in mir, nicht den Mann. Meine Gebrauchsanweisung habe ich bereitwillig herausgerückt, und so konnte jeder, der es wollte, mal an meinen Funktionen schrauben. Ich war und bin bester Freund und beste Freundin.
Noch immer reagiere ich allergisch und heftig darauf, wenn ich darauf verweise, dass meine Schwester doch mal dieses und jenes erledigen könne, und die Antwort meiner Mutter darauf höre: »Sie muss doch in die Schule, sie muss doch arbeiten.« Ich übersetze das dann mit: »Du hast doch immer Zeit, du machst ja nix …«
Ich habe sie, diese Tage, an denen die Existenzangst die Oberhand gewinnt. Vor Spiegeln stelle ich mich weiter blind, weil ein Blick beweisen würde, was ich längst weiß. Auf meinem Weg der Besserung ist der Körper dem Kopf schon weit vorausgeeilt. Mein Weg führt mich jeden Tag von Neuem in die Gemüse-Obst-Milchprodukte-Abteilung meines Supermarktes – Magerquark ist nach wie vor fester Bestandteil meines Ernährungsplans. Manchmal aber ertappe ich mich dabei, an der Fischtheke vorbeizuschlendern, Blicke zu wagen und sie mit Gerichten zu verbinden, die ich einst gerne und leidenschaftlich nicht nur zubereitete, sondern auch aß. Oder ich schaue mal kurz rüber – pssst! – zum Käse.
Als ich kürzlich mit guter Laune und vollem Wagen meine Einkaufsrunde abschloss, begegnete ich an der Kasse einer Verkäuferin, die ich schon seit Jahren kenne, die ich aber lange nicht mehr gesehen hatte. Sie begrüßte mich überschwänglich und lautstark, so dass alle Umstehenden mitbekommen mussten, wer ich bin.
Als wäre das alles nicht schon unangenehm genug gewesen, sagte sie das Wort und den Satz, dieses Wort und diesen einen Satz, die Sie niemals, niemals zu einem Magersüchtigen sagen dürfen, egal, wie lange er schon als »auf dem Wege der Besserung« oder geheilt gilt. Sie sagte das auch nicht, sie brüllte es: »Ach, Herr Frommert, da bin ich aber froh! Sie sehen so gut aus, Sie haben richtig zugenommen!«
Z-U-G-E-N-O-M-M-EN!
In diesem Moment fühlte ich mich, als wäre ich mit dem Hintern auf eine
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