"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
freut mich aber. Danke, das hast du gut gemacht.« Trotz tonnenweiser Geschenke und Aufmerksamkeit. Ich leide und litt darunter, aber irgendwie verstehe ich es mittlerweile auch. Sie ist eben so, und das ist für sie vielleicht oft schlimmer als für mich.
Meine Mutter würde jemandem ihr letztes Hemd geben, auch wenn sie selbst bitterlich frieren müsste. Sie würde es großzügig verschenken, ohne lange zu fragen, an wen und warum. Aber ihren Mantel zu öffnen, Trost zu spenden, Zuneigung und Zärtlichkeit zu schenken, eine Schulter zum Anlehnen und einen Arm zum Wärmen anbieten – das kann sie nicht so einfach.
Meine Mutter verlangt von sich und anderen in erster Linie zu funktionieren. »Wer abends weggehen kann, kann morgens auch aufstehen.« Ihr Motto war stets: Wer A sagt, muss auch B sagen.
Das ist ihr Leben: Müssen, müssen, müssen. Keine Freiheit, keine Leichtigkeit, keine Schwäche, keine Gelassenheit. Das wäre Schlendrian. (Ja, Sie haben natürlich recht: Mir kommt das auch irgendwie bekannt vor …)
Sie hätte allen Grund dazu, vor Selbstvertrauen zu strotzen. Doch es ist erstaunlich, wie sehr sie sich über das Urteil anderer definiert. Eine Meinung kann ja jeder haben, aber es zählen stets nur bestimmte Meinungen. Die der anderen.
Manchmal glaubte ich, meine Mutter wäre die Erfinderin der Meinungsumfrage. Denn: Eine Person wurde bei ihr nie durch die Person selbst beurteilt, sondern durch alle anderen. Nur wenn die Außenmeinung gut ist, gibt es so etwas wie Zufriedenheit. Daraus zieht sie Kraft. Und das überträgt sie auch auf ihre nächsten Angehörigen. Ich weiß das. Ich bin der, dessen Mutter nur Stolz empfindet, wenn dritte Personen (Nachbarn, Lehrer, Freunde) die Leistungen ihres Sohnes preisen: »Frau X hat gesagt, das hat dein Sohn aber toll gemacht!« Das hat sie dann stolz gemacht. Darüber hat sie sich gefreut. Glaube ich. Denn gesagt hat sie es nicht, gesagt hat sie nie: »Das hast du klasse gemacht, Christian!«
Ich erinnere mich jedenfalls nicht, das in dieser Form je gehört zu haben.
Dabei ist sie ein herzensguter Mensch, nicht in sich zurückgezogen, lebhaft, eloquent, quirlig gar. Sie engagiert sich gerne und oft in Vereinen, Partei und immer wieder in ihrem Jahrgang. Sie ist Motor, Steuerrad, Kofferraum, Karosserie, Sprit und Chauffeur in Personalunion. Sie kann alles, macht alles, und wenn sie etwas macht, dann hängt an ihr alles. Sie liebt diese Rolle im Mittelpunkt, dass sich die Dinge um sie drehen, sie will es genau so – und auch hier gehört Klagen zum Handwerk. Nie ist etwas gut genug, nie ist es perfekt. Ich glaube, selbst wenn etwas perfekt wäre, von Gott höchstselbst erschaffen und für gut befunden – sie würde noch ein Haar daran finden.
Genau deshalb flog einem ihre Liebe nie zu, man musste sie sich erarbeiten. Sie gibt gerne, immer wieder. Das Verschenken von Immateriellem aber, das von Gefühlen, Streicheleinheiten, nein, das war und ist ihre Sache nicht.
Immer mehr habe ich aber das Gefühl, dass ihre Unzufriedenheit gar nicht mir persönlich gilt. Eher trägt sie über mich etwas aus, das eigentlich im Kern mit ihr zu tun hat. Aus ihrer Vergangenheit rührt. Aber ich war eben immer da und ihr sehr nah, und vielleicht ließ sie darum ihre Unzufriedenheit oft einzig an mir aus
Ich bekam als Kind alles zum Leben Nötige, keine Frage.
Lange hatte ich nichts vermisst.
Dachte ich. Nun aber suchte ich Zuneigung und wurde nicht fündig. Nicht in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart. Vielleicht auch deswegen hatte ich den Kontakt zu Mutter zunächst erst einmal etwas zurückgefahren. Aus Gründen des Selbstschutzes und auch aus Bockigkeit. Es musste Gras wachsen über diese Sache, die wenige Tage nach unserer Rückkehr dafür sorgte, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Ahnung davon bekam, was es bedeutet, wenn in der Zeitung zu lesen ist, dass da »der Sohn die Mutter im Affekt …«. Zumindest war ich fest entschlossen, sie nie mehr sehen zu wollen.
Eigentlich dachte ich, in Australien schon alle Täler mit ihr durchwandert zu haben. Eines wartete noch auf uns. Das tiefste.
Rückblende: Wenige Tage vor unserem Aufbruch nach Australien meldeten sich meine beiden Nichten, Janina und Celine. Dem Modediktat folgend, gaben sie uns eine Aufgabe mit auf den Weg: UGG Boots sollten wir mitbringen, ein Paar für jede. Mit Fell ausgeschlagene Stiefel, die vor allem junge Mädchen zu jeder Tag- und Nachtzeit, zu jedem Anlass in jeder
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