"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
und üppig gefüllten Kuchentheken lagen nur wenige Meter. Aber dennoch Lichtjahre.
Herübergeschwappt vom See ist immerhin die Fähigkeit, Image auf- und auszubauen. Roseneck hat einen tadellosen Ruf. Wem die Magersucht das Leben gemopst hat, der versucht es in Roseneck wiederzufinden. So ist es zu hören und zu lesen, im Web, im TV , in Zeitschriften, Büchern, in Selbstdarstellungen. Dort habe ich sehr viel über die Magersucht gelernt.
Nur nicht, wie ich sie loswerde.
Krankenhauskost, die Erste
In der Klinik – Illusionen in Weiß
Das Erste, was mir bei meiner Ankunft in der Schön Klinik Roseneck auffiel, war dieses kleine Schild. Angebracht an einer Hebevorrichtung für Rollstühle, direkt neben dem Eingang. Die Front des kleinen Lifts scheint aus einer Art Geländer zu bestehen. Es ist aber das bewegliche Einfahrtstor – entsprechende Vorsicht ist also geboten. Darum steht da auch in schwarzen Blockbuchstaben:
» BITTE NICHT AUFLEHNEN !«
Die Doppeldeutigkeit sprang mir sofort ins Auge, rang mir gar ein Schmunzeln ab. Innerlich nur, aber immerhin war es eine Emotion, und das gleich bei Ankunft. Er schien tatsächlich magische Kräfte zu haben, dieser Ort, an dem man sich doch »bitte nicht auflehnen« sollte. Ich ahnte noch nichts von der Bedeutungsschwangerschaft, die diese Worte in sich trugen. Hier war beliebt, wer funktionierte.
Ich funktionierte auch an diesem milden Mittwochmorgen Ende April perfekt. Kein Sentiment, das den Ablauf stören könnte, keine Irritation, keine Nervosität, keine Vorfreude auf Leben nach der Rückkehr. Nicht das geringste Interesse an Antworten auf Fragen wie: Was wird wohl auf mich zukommen? Wie werden die Leute dort sein? Werde ich wieder gesund? Es war mir egal. Ich sollte dahin. Also ging ich dahin.
Aufstehen! Fahren! Ankommen! Einchecken! Pünktlich! Es hört sich roboterhaft an und wurde auch genauso durchgezogen. Eingerechnet hatte ich auch Zeitfaktor X für unzählige Wasserlassunterbrechungen. »Es gibt doch viel zu wenige Parkplätze!«, schrie ich, als ich mir ob mangelnder Haltebuchten wieder mal fast in die Hose machte. Die eigenwilligen Körperfunktionen richten sich nicht nach den Konzepten deutscher Straßenplaner. Und so kam es, dass ich auch schon mal den Standstreifen als Kurzparkpinkelpausenzone missbrauchte. Zudem hatte ich mittlerweile einige Routine darin, es auch hinterm Steuer sitzend und in voller Fahrt laufen zu lassen. Mein Auto war längst sonderausgestattet mit im Kino ergatterten XXL -Bechern, Flaschen, Tüten und Papiertüchern. Diese Krankheit lässt dich erstaunliche Dinge lernen, und sie beflügelt die Kreativität, sich das Leben nach seinen Bedürfnissen still und heimlich einzurichten, egal an welchem Ort. Wenn es sein muss, mitten auf der Autobahn.
Bisher hatte ich trotz dieser lebensgefährlichen Manöver immer mein Fahrtziel erreicht. Auch dieses Mal. Ankunft Chiemsee, Prien, Roseneck, April 2010. Der Himmel war blau, die Sonne strahlte, alles war hell und roch nach Neubeginn. Nur bei mir wollte sich keine Aufbruchsstimmung einstellen. Das lag nicht nur an der Gewissheit, dass ich nun für drei Monate interniert sein würde, umgeben von lauter kranken, depressiven, ausgebrannten, grenzerfahrenen, jungen und vor allem essgestörten Menschen, zu denen ich mich nach wie vor nicht rechnete. Es lag auch daran, dass ich grundsätzlich zu keinen tiefer gehenden Gefühlsregungen fähig war. Mir war nach wie vor immer kalt, alles tat weh, das Leben war Elend und Mühsal. Da konnte ich keine gesteigerte Gedankenkraft für Themen wie das Wetter oder Gefühle für so etwas unerwünscht Aufreibendes wie einen »Neubeginn« aufbringen. Meine Einstellung war: Augen auf und durch, Hauptsache, danach herrscht wieder Ruhe.
Fast stoisch stand ich also nach meiner Ankunft an der Rezeption, machte das, was ich schon als Journalist immer gemacht hatte, wenn ich auf unbekanntem Terrain arbeitete: Location checken. Optionen schaffen, Gegend erkunden, Menschen studieren. Systematisch Schwächen im System finden, statt systemische Fehler bei mir selbst zu suchen. Wie gesagt: Ich hielt mich nicht für krank. Ich hatte noch nicht annähernd das Gefühl, dass ein Mensch mit extremem Untergewicht krank sein könnte, geschweige denn in Lebensgefahr – für einen 1,84-Mann mit 42 Kilo auf den brüchigen Rippen, der knapp dem Organversagen entgangen war, eine bemerkenswert ignorante Einstellung. Aber ich war ja, wie gesagt, mit anderen Dingen beschäftigt.
Weitere Kostenlose Bücher