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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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schwachen Phantasie und vermögen keine genaue Darstellung der aktuellen Verfassung zu liefern. Es folgen uninspirierte Versatzstücke auf vordefinierte Fragen: Wie fühle ich mich gerade? Welches Ziel habe ich mir für die Mahlzeit vorgenommen, z. B. bezüglich der Mengengröße, des Esstempos, verbotener Nahrungsmittel etc.?
    Beim Abschlussblitzen darf man sich dann sogar richtig auskotzen. Verbal natürlich nur. Was hat mich gestört? Welchen Regelverstoß habe ich begangen und, viel schlimmer: welchen die anderen? Was hat mich »echt getriggert«?
    So ging es zu am Ess-Erstklässler-Tisch. Ich saß mit dem Rücken zur Wand, mit freiem Blick auf ein mögliches Minimalziel, den »Gemeinschaftstisch«. Er war gerade einen Meter entfernt. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich sitzenblieb. Klassenziel nicht erreicht.
    Denn ich dachte ja nicht im Traum daran, hier mehr als einen Fußbreit von meinen Gewohnheiten abzuweichen. Gruppentherapie, gemeinsame Mahlzeiten, Gemeinschaftsaktivitäten – geschenkt. Aber soweit es irgendwie möglich war, wollte ich meinen persönlichen Essensplan durchziehen. Ich fühlte mich dabei sehr individuell. Wie alle. Deshalb war das hier irgendwie eine Versammlung der individuellen Masse. Jeder dachte gleich und agierte gleich. Es war ein einziges Betrügen und Selbstbetrügen. Wie die Lemminge werden Patienten durch den Tag geschleust.
    Allmorgendliche Sammelstelle war der Vorraum zum Essenssaal.
    Es wurde kein Wort zu viel gesprochen. Ein Witzchen fallenzulassen, um die Lage zu entspannen, empfahl sich schon gar nicht. Wirklich niemand wollte hier locker sein und sich seine schlechte Laune verderben lassen. Schließlich war man nicht zum Spaß hier, vielmehr stand schon am frühen Morgen, kurz vor sieben, der Ernst dieses Kliniklebens auf dem Programm, es stand Essen auf dem Plan. Und so lief es dann auch ab: planmäßig. Tür auf, rein, Anwesenheit quittieren, ran an die Töpfe und Körbe, Tassen, Teller und Gläser, und immer an den Einsatz mürrisch-böser Blicke und den der Ellenbogen denken.
    Etwas Groteskeres als die Suche nach dem einzig wahren Brötchen habe ich vorher nie gesehen. Da wird abgewägt und im Kopf abgewogen, zu groß, zu klein, zu wenig Sesam, zu viel Kürbiskern, zu rund, zu eckig. Sie glauben gar nicht, was einem an einem Brötchen alles nicht gefallen kann. Es wird gewählt, untersucht, verworfen, gewühlt, gesucht, gefunden. Die Schlange wird länger und länger. Die Nerven aller Beteiligten sind zum Zerreißen gespannt, der Druck in diesem Raum ist mit Händen zu greifen. Oder mit der Brötchenzange.
    Wer tagein, tagaus inmitten depressiver, neurotischer, angespannter – also völlig normaler Brech-, Fett- oder Magersüchtiger arbeitet, verliert seine Sensibilität. Vielleicht ist das alles auch nur so zu ertragen. Die Servicekräfte jedenfalls haben sich bis auf wenige Ausnahmen ein dickes Fell zugelegt, einen Panzer gegen Übergriffigkeiten, aus dem heraus sich auch noch reichlich Giftpfeile abschießen lassen. Sie haben sich mit den Ritualen der Essgestörten längst arrangiert. Für sie ist es nur ein Arbeitsplatz, für ihre Gäste die zum Speiseraum gewordene Hölle.
    Jeder schweigt fein still, weil alle, die diese geflochtenen schweren Körbe voll mit Backwaren endlich erreicht haben, gleich funktionieren. »Müsli-, Quark- und Joghurtschälchen sollen nicht überquellen«, heißt es im zweiten der Roseneck’schen Frühstücksgebote. Tun sie aber. Und wie. Die Gesetze der Physik werden bis aufs Äußerste strapaziert, und ich frage mich, wie man es schafft, rund 100 Gramm Quark in ein Glasschälchen zu zwängen, das eigentlich nur etwas mehr als der Hälfte dieser Masse Raum bietet. Im Marmeladentöpfchen sieht es nicht anders aus. Alles in diesem Raum ist gespannt, sogar die Oberflächen.
    Massen werden an die Tische gebracht. Doch wird hier längst nicht von allem gegessen, was aufs Tablett kommt. Die Magersüchtigen wahren den Schein, tragen auf ihre Teller, was hier als Grundportion gefordert wird, aber geben sich dann alle Mühe, den Boden ihres Schälchens nie zu erreichen.
    Es ist ein bizarrer Anblick, wenn junge Frauen ihre Tabletts, die schwerer zu sein scheinen als sie selbst, in Zeitlupentempo an ihre Plätze schaffen. Ein Schlauch in der Nase ist äußerliches Zeichen innerer Kämpfe, einer Zerrissenheit, die zumindest temporär via Nasensonde verabreichter Brei-Einheiten gekittet werden soll … Irgendwer hat immer verheulte Augen, einen

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