"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Stichwort: Ich war im Dienst der guten Sache unterwegs, immer und überall, ich war im Krieg gegen die Kalorien, im Kampf gegen jede einzelne von ihnen.
In dieser Hinsicht stellte das »Projekt Prien« eine Herausforderung der besonderen Art dar. Natürlich waren Diät- und Light-Produkte jeder Art im Haus streng verboten. Es gab da eine Liste, auf der so etwas stand wie: »Im Zimmer soll sich nicht mehr als eine Tagesration folgender Lebensmittel befinden: …« Es wurden in der Folge solche Albernheiten aufgezählt wie »100 g Schokolade oder 100 g Bonbons, 1 Packung Kekse (125 g)«. Nichts von dem war bei mir zu finden. Dafür fast alles von dem, was unter der dick unterstrichenen Zwischenüberschrift » Nicht erlaubt sind : …« stand. Süßstoff zum Beispiel, Light- und Diätprodukte, Gewürze jeder Art, Elektro- und Sportgeräte.
Ich hatte für solche Schreiben vollstes Verständnis und einen Kofferraum voll mit Coke Zero, SevenUp light, Süßstoff in allen Aggregatzuständen, Magerquark (0,2% Fett) oder Joghurt (0,1%) sicher in der Tiefgarage verstaut. Der Kühl- und Lagerraum kostete mich – so stand es in der Anmeldung für die Tiefgarage – zwei Euro Miete pro Tag. Ein echtes Schnäppchen.
Die Mahlzeiten wurden im gemeinschaftlichen Essraum mit allen Patienten gemeinsam eingenommen. Alle – Magersüchtige, Ess-Brechsüchtige, Fettsüchtige, Borderliner, Ausgebrannte, Depressive – bekamen die gleichen Mahlzeiten. Hier sollte niemand seine Spezialdiät erhalten – alle sollten sich daran gewöhnen, wieder normal zu essen. Alle essen gleich, alle sind gleich.
Nur an der Anordnung der Tische war so etwas wie eine ganz eigene Hierarchie zu erkennen: Ganz hinten an der Wand stand die Essplatte für Einsteiger, »Essprotokolltisch« genannt, eine Art Tafelrunde der Ritter von ganz trauriger Gestalt. Wer sich aber morgens, mittags und abends artig durch den verordneten und festgeschriebenen »Grundbedarf« futterte, bekam eine echte Aufstiegschance: den »Gemeinschaftstisch«. Ihm folgte der »Familientisch«, und als Krönung der wieder entdeckten Esskultur: der »Freie Tisch«. Um an einem neuen Tisch Platz nehmen zu dürfen, war aber nicht nur die Menge der Nahrungsaufnahme ausschlaggebend. Denn auch das Tempo beim Essen spielte eine Rolle. Dabei wurden beachtliche Rekorde erzielt. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass es eine Fußballspielhälfte inklusive Nachspielzeit lang dauern könnte, ein Brötchen aufzuschneiden, zu schmieren, zu belegen und – beinahe – vollständig zu verputzen. Ein vor allem für das Publikum quälendes Schauspiel. Beißende Blicke begleiten die sich scheinbar durch Gummi knabbernde Leidensgenossin. Geredet wird kaum bis gar nicht. Was auch? Welche Themen könnten als Tischkommunikation geeignet sein? Es ist dies eine der wenigen Fragen, für die in der Klinik keine schwarz auf weiß fixierten Vorgaben existieren. Was längst nicht heißt, dass es keine Kommunikationsregeln gibt. Im Gegenteil, es sind die strengsten von allen. Gelernt sind sie schnell: Tabu ist fast alles. Weil man sich an allem den Mund verbrennen könnte. Keiner weiß, welch fatale Folgen ein lockerer Spruch, ein unbedachtes Wort, ein belangloser Satz, eine arglos gestellte Frage, eine unbedarft in die Tiefe des Raumes geworfene Erwiderung, eine vermeintlich harmlose Anmerkung haben könnte.
Überhaupt steht hier alles unter einem dringenden Trigger-Verdacht. »Triggern« ist Psychosprech für eine Art Schlüssel-Reizwort, das im Gegenüber Erinnerungen freisetzt, die im schlimmsten Fall als gerade erlebt empfunden werden. Immerzu triggert irgendetwas irgendjemanden. In dieser fragil-knisternden Atmosphäre über seine Vita reden? Gefährlich! Über die Vergangenheit der anderen? Lebensmüde! Fußball? Albern! Politik? Doof! Gesellschaft? Hä! Essen? Sehr witzig. Wetter? Spießer!
So bleiben kaum geeignete Themen übrig. Gesprochen wird aber schon. Doch auch die Konversation ist medizinisch verordnet. »Blitzlicht« heißt das skurrile Ritual, das einem als Vor- sowie Nachspeise aufgetischt wird. Man soll beim »Blitzen« eine Kurzbeschreibung seines aktuellen Geisteszustandes abgeben. Der Name dieses Rituals kann jedoch unmöglich von »Geistesblitz« abgeleitet worden sein. Es ist vielmehr ein pflichtschuldig-lustloses Herunterleiern auswendig gelernter Floskeln und Plattitüden, das ohne die Adjektive »gut« und »schlecht« auskommen muss. Diese nämlich seien nur Beiworte einer
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