"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Beinen reinkommen.«
Erstes Ziel der Eil-Einweisung war es gewesen, das akut drohende Versagen vor allem der Nieren zu verhindern. In dessen Folge hätten wahrscheinlich auch noch einige andere Körperwerkzeuge final ihren Dienst quittiert, den sie bis dahin fast 43 Jahre anstandslos verrichtet hatten. Durch mein nicht mehr vorhandenes Essverhalten hatte ich den Organen ohnehin längst das Gefühl gegeben, hier nicht weiter gebraucht zu werden. Außerdem war die Idee meines Aufenthaltes, fehlende Nährstoffe mittels hochkalorischer Ernährung mit Vitaminen und Mineralien über einen zentralen Venenkatheter zuzuführen und mich unter Beobachtung einigermaßen wieder hochzupäppeln. Als ich mich fünf Tage später selbst wieder entließ, war ich um eine Erfahrung mit deutschen Krankenhäuser reicher – und zwei weitere Kilo ärmer.
Ich weiß nicht mehr genau, wie Weihnachten verlief, all diese Tage sind verschwommen und trüb im Hintergrund meines Gedächtnisses.
Im Vordergrund steht immer dieses eine Bild: Ich auf dem Marmorboden vor der Treppe, mehr tot als lebendig, frierend, ächzend, verzweifelt. Über mir, in unerreichbarer Höhe, meine Wohnung, meine Burg, mein Verlies, mein sicheres Versteck vor der Welt. Ich habe gar nicht mehr versucht aufzustehen, weil ich bei einem nur halb gelungenen Versuch hätte abrutschen können und mir dann wieder einmal dieses längst vertraute krachende Geräusch zu Ohren gekommen wäre, wenn Rippen und andere meiner tönernen Knochen brechen. Ich wählte mit knochigen Zitterfingern die Nummer meines besten Freundes Denni und sagte: »Ich kann nicht mehr. Hilf mir. Bitte!«
Denni half. Wie immer. Er fuhr 50 Kilometer, nur um mich, nachdem ich anfänglich noch protestiert hatte, beherzt die Treppe in meine Wohnung hinaufzutragen. Ich wehrte mich. Zunächst. Wenn auch sicher nicht mit den Worten: »Ich bin doch viel zu schwer!« Mir war die Sache peinlich, unendlich peinlich. Und wieder einmal schwor ich mir, wie so viele hundert Male in den vergangenen Jahren: Sobald du oben bist, sobald das hier geschafft ist, fängst du wieder an zu essen. Das alles muss aufhören, jetzt, sofort, für immer.
Und dann war alles nicht für immer, sondern wie immer: Kaum war ich in meiner sicheren Festung, kaum war Denni mit Dank überschüttet und hinauskomplimentiert, habe ich es tatsächlich geschafft … wieder nichts zu essen.
Denn das ist das Wesen meiner Krankheit: dass sie niemals lockerlässt. Sie gewinnt immer.
Mein Name ist Christian Frommert, ich bin 1 Meter 84 groß. Und ich habe Magersucht.
Gastgeber
Anna und ich
Sie wollen wissen, was Magersucht ist?
Die Antwort ist lang, in etwa so lang wie ein Buch. In etwa so lang wie dieses Buch hier. Wahrscheinlich sogar länger.
Es ist schon so viel geschrieben worden über die Magersucht, unglaublicher Unfug und brillante Ansätze. Allgemeinplätze, Klischeehaftes. Einiges bis zum (entschuldigen Sie die Formulierung) Erbrechen wieder- und wiedergekäut. Geschafft hat es bislang keiner, diese von den Betroffenen verachtete und doch heiß geliebte Krankheit zu beschreiben.
Auch dieses Buch wird nicht annähernd dem gerecht werden können, was ich jeden Tag erlebt und gelebt habe. Wie man in die Magersucht gerät, welche Kräfte sie freisetzt, welche Schwächen sie ausnutzt, welche Macht sie über einen gewinnt. Was und wie sie fühlen lässt, wie man sich in sie einhüllt und es einem dabei kalt wird und sie einen immer kälter werden lässt. Wie ich mit ihr vegetiere, wie sie sich entwickelt und vor allem: warum ich in ihr trotz all der Leiden gerne verharre. Warum ich sie sogar geliebt habe und mich von dieser ungnädigen Geliebten habe tyrannisieren lassen.
Geliebte? Das fragen Sie jetzt sicher.
Doch, ich meine das so.
Anorexia ist nicht die Bezeichnung für eine Krankheit, es ist der Name einer inniglich Geliebten. Einer Verschworenen im Kampf gegen das Fett. Einer Gefährtin, die nur das Beste von mir will – und das Schlechteste einfach wegfrisst. Ich nenne sie Anna.
Lesen Sie dazu mal diesen Tagebucheintrag von mir aus der schlimmsten Zeit:
Wer hält mich nachts wach und irgendwie doch am Leben?
Wer saugt mir die Kraft aus den Knochen und dem wenigen Fleisch, das noch an mir ist – und das man eher als ledrige Rinde bezeichnen würde?
Wer ist mir verhasst und doch lieb und teuer, wen achte und verachte ich gleichermaßen, mit wem wiege ich mich im kranken Tanze federleicht übers Parkett?
Anna.
Meine gehasste
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