Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
allem, wenn Sie Briefe haben. Je persönlicher, desto besser, klar. Alles möglichst nah am Datum der Morde, 3 . Januar 1985 .« Er betete das herunter, als hätte er das Gleiche schon oft gesagt. »Die Leute sind echt … echt fasziniert von Ihrer Mom.«
Das war schon immer so. Alle wollten eine Antwort auf die Frage: Was für eine Frau muss das sein, die von ihrem eigenen Sohn abgeschlachtet wird?
Patty Day
2 . Januar 1985
8 Uhr 02
E r telefonierte wieder, sie konnte das Gemurmel seiner Stimme hinter der verschlossenen Tür hören. MuaMUAua, Geräusche wie aus einem Zeichentrickfilm. Er hatte einen eigenen Anschluss gewollt – die Hälfte seiner Mitschüler hätte einen eigenen Eintrag im Telefonbuch, behauptete er. Man nannte sie Kinderleitungen. Sie hatte gelacht und war dann sauer geworden, weil ihn ihr Lachen wütend gemacht hatte. (Also ernsthaft – eine Telefonleitung für Kinder? Wie verwöhnt waren die Kids denn heutzutage?) Sie hatten es beide nicht mehr erwähnt – ihnen wurde beiden schnell ein Thema unangenehm –, und dann war er ein paar Wochen später nach Hause gekommen, einfach so, und hatte ihr mit gesenktem Kopf eine Einkaufstüte präsentiert: Darin war ein Splitter, durch den man zwei Apparate an die gleiche Leitung anschließen konnte, und ein erstaunlich leichtes Plastiktelefon, das nicht viel anders aussah als das rosarote Ding, mit dem die Mädchen manchmal Sekretärin spielten. »Büro von Mr Benjamin Day«, meldeten sie sich immer und wollten den großen Bruder in ihr Spiel mit einbeziehen. Dann grinste Ben und sagte ihnen, sie sollten eine Nachricht für ihn aufnehmen. In letzter Zeit hatte er sie allerdings meistens ignoriert.
Seit Ben diesen Luxus eingeführt hatte, war der Ausruf »diese verdammte Telefonschnur« im Haus der Days zum geflügelten Wort geworden. Das Kabel wand sich vom Küchenanschluss über die Anrichte, den Flur hinunter und quetschte sich dann unter der stets geschlossenen Tür seines Zimmers durch. Mindestens einmal pro Tag stolperte jemand über die Schnur, gefolgt von einem Aufschrei (wenn es eins der Mädchen gewesen war) oder lautem Fluchen (bei Patty oder Ben). Schon mehrfach hatte sie ihn gebeten, das Kabel an der Wand zu befestigen, aber er machte es einfach nicht. Sie versuchte sich einzureden, dass das ganz normale Teenager-Sturheit war, aber bei Ben wirkte es irgendwie aggressiv, und sie machte sich Sorgen, dass er wütend oder faul oder noch etwas Schlimmeres war, was ihr noch nicht mal in den Sinn kam. Und mit wem redete er da eigentlich dauernd? Bevor der zweite Telefonanschluss so klammheimlich eingerichtet worden war, hatte Ben kaum je einen Anruf bekommen. Er hatte zwei gute Freunde, die Muehler-Brüder – angehende Farmer im Overall, Mitglieder der Bauernorganisation Future Farmers of America, die so schüchtern waren, dass sie manchmal wortlos auflegten, wenn Patty ans Telefon ging. Dann sagte sie Ben Bescheid, dass Jim oder Ed gerade angerufen hätte. Aber diese langen Gespräche hinter verschlossener Tür hatte es bislang nie gegeben.
Patty vermutete, dass ihr Sohn endlich eine Freundin gefunden hatte, aber wenn sie etwas in dieser Richtung andeutete, war das Ben offensichtlich extrem unangenehm – seine blasse Haut wurde weißblau, und seine bernsteinfarbenen Sommersprossen begannen geradezu zu glühen. Es wirkte fast wie eine Warnung, deshalb mied sie das Thema inzwischen. Sie war nicht die Art Mutter, die ihre Nase allzu tief in das Leben ihrer Kinder steckte – es war schwer genug für einen fünfzehnjährigen Jungen, in einem Haus voller Frauen die eigene Privatsphäre aufrechtzuerhalten. Als er eines Tages von der Schule heimgekommen war und Michelle dabei erwischt hatte, wie sie seine Schreibtischschubladen durchwühlte, hatte er ein Vorhängeschloss an seiner Tür angebracht. Auch bei der Installation des Schlosses hatte er den Rest der Familie vor vollendete Tatsachen gestellt: Ein paar Hammerschläge, und plötzlich war es da. Die Jungsdomäne, abgegrenzt und gut gesichert. Patty konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Seit Runner sie verlassen hatte, war das Farmhaus sehr mädchenhaft geworden, Vorhänge, Sofas, sogar die Kerzen waren apricotfarben. Überall Spitze. Kleine rosa Schuhe, geblümte Unterwäsche und Haarspangen in Schubladen und Schränken. Bens seltene Behauptungsversuche – die ineinander verdrehte Telefonschnur und das metallische, männliche Vorhängeschloss – waren da doch mehr als
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