Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
aussitzen. Das konnte er.
So ein Mensch würde er sein.
Als dieser Mensch war er berühmt geworden. Zuerst war er der knallharte Teufelsbruder, und alle gaben sich Mühe, ihm aus dem Weg zu gehen, sogar die Wärter hatten Angst vor ihm, aber danach war er der freundliche, missverstandene Gefangene. Dauernd kamen irgendwelche Frauen, und er versuchte, nicht zu viel zu sagen und es ihrer Phantasie zu überlassen, was er dachte. Für gewöhnlich stellten die Frauen sich vor, dass es gute Gedanken waren. Manchmal stimmte das auch. Und manchmal dachte er darüber nach, was passiert wäre, wenn diese Nacht anders verlaufen wäre: Er und Diondra und ein kreischendes Baby irgendwo draußen in Westkansas, und Diondra, die verbitterte Tränen in einem winzigen, schmierigen Motelzimmer heulte, das sie pro Woche bezahlten. Er hätte sie umgebracht. Irgendwann hätte er womöglich diesen Punkt erreicht. Vielleicht hätte er aber auch das Baby gepackt und wäre davongelaufen, und er und Crystal würden jetzt irgendwo glücklich und zufrieden zusammenleben, sie hätte einen College-Abschluss, er würde die Farm führen, und immer stünde eine Kanne heißer Kaffee bereit, wie zu Hause.
Vielleicht war er jetzt an der Reihe, draußen zu sein, und Diondra musste eine Weile ins Gefängnis, und er würde Crystal finden, wo immer sie sein mochte. Sie war ein wohlbehütetes Kind, sie konnte nicht ewig verschwunden bleiben, er würde sie finden und für sie sorgen. Es wäre schön, sich um sie zu kümmern, etwas zu tun, außer den Mund zu halten und alles über sich ergehen zu lassen.
Aber noch während er das dachte, wusste er, dass er seine Ziele nicht so hoch stecken durfte. Das hatte das Leben ihn gelehrt: such dir immer ein nahe liegendes Ziel. Er war dafür geboren, einsam zu sein, das wusste er ganz sicher. Als kleiner Junge schon, als Teenager, und jetzt sowieso. Manchmal hatte er das Gefühl, dass er sein ganzes Leben weg gewesen war – im Exil, nicht an dem Platz, wo er sein sollte – und sich wie ein Soldat danach sehnte, zurückgeschickt zu werden. Er hatte Heimweh nach einem Ort, an dem er nie gewesen war.
Vielleicht würde er zu Libby gehen, wenn er herauskam. Zu Libby, die aussah wie seine Mutter, wie er selbst, die nach dem gleichen Rhythmus funktionierte wie er. Er konnte den Rest seines Lebens damit verbringen, Libby um Verzeihung zu bitten, auf Libby aufzupassen, seine kleine Schwester. Irgendwo da draußen. In einem kleinen Haus.
Das war alles, was er wollte.
Libby Day
Jetzt
D ie Schnörkel des Gefängnisstacheldrahts glänzten gelb, als ich zu meinem Auto kam, und ich war versunken in Gedanken an all die Leute, die im Sog dieser Ereignisse verletzt worden waren – absichtlich, aus Versehen, verdient, unfair, oberflächlich, schwer. Meine Mom, Michelle, Debby. Ben. Ich. Krissi Cates. Ihre Eltern. Diondras Eltern. Diane. Trey. Crystal.
Ich fragte mich, wie viele dieser Verletzungen noch heilen würden, ob überhaupt jemand wieder gesund oder auch nur getröstet werden konnte.
An einer Tankstelle machte ich halt, um nach dem Weg zu fragen, weil ich vergessen hatte, wie man zu Dianes Wohnwagensiedlung kam, und verdammt, ich wollte sie sehen. Vor dem Spiegel auf der Tankstellentoilette fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und rieb mir die Lippen mit dem Fettstift ein, den ich fast gestohlen, aber dann doch gekauft hatte (obwohl ich mich mit dieser Entscheidung noch immer nicht ganz wohl fühlte). Dann fuhr ich durch die Stadt zu dem Trailerpark mit dem weißen Lattenzaun, wo Diane wohnte und überall die Osterglocken blühten.
Es gibt nämlich hübsche Trailerparks.
Dianes Trailer war genau dort, wo ich ihn in Erinnerung hatte, und ich hielt an und hupte dreimal, wie sie es früher immer gemacht hatte, wenn sie uns besuchte. Sie war in ihrem kleinen Garten und buddelte bei den Tulpen herum, ihr breites Hinterteil zu mir gewandt, ein großer Klotz von einer Frau mit wellig drahtigen Haaren.
Als sie das Hupen hörte, drehte sie sich um und blinzelte heftig, als sie mich aussteigen sah.
»Tante Diane?«, sagte ich.
Mit großen, festen Schritten und konzentriertem Gesicht kam sie auf mich zu und umarmte mich so fest, dass ich keine Luft mehr bekam. Dann klopfte sie mir zweimal hart auf den Rücken, hielt mich auf Armlänge von sich weg und zog mich gleich noch einmal an sich.
»Ich wusste, du würdest es schaffen, ich wusste es, Libby«, murmelte sie in meine Haare, warm und rauchig.
»Was
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