Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
ich die linke, die kaputte, nicht ansehen musste. Es war schon fast Abend: Wolken trieben wie Büffel in Rudeln über den Himmel, die Sonne stand tief und überschüttete alles mit ihrem rosa Licht. Richtung Fluss, zwischen den Auf- und Abfahrtschleifen des Highways, standen leere, seit langem unbenutzte Getreidesilos, schwarz und sinnlos.
Ganz allein überquerte ich den Parkplatz. Überall Glasscherben, aber niemand versuchte, mich zu überfallen. Schließlich war es gerade mal fünf Uhr nachmittags. Jim Jeffreys aß gern früh und war stolz darauf.
Als ich hereinkam, saß er an der Bar, schlürfte eine Limo und riss, genau wie ich es erwartet hatte, als Erstes sein Handy aus der Jackentasche und starrte es an, als hätte es ihn verraten.
»Hast du angerufen?«, fragte er.
»Nein, ich hab’s vergessen.«
Er lächelte. »Hmm, na ja. Aber ich bin froh, dass du da bist, Schätzchen. Was dagegen, wenn wir gleich Tacheles reden?«
Nachdem er zwei Dollarscheine auf den Tresen geklatscht hatte, manövrierte er uns zu einem Tisch mit einer roten Lederbank, aus deren Ritzen gelbes Polstermaterial hervorquoll. Der kaputte Bezug kratzte hinten an meinen Beinen, als ich mich setzte. Das Polster rülpste, und ein Schwall Zigarettengestank entwich in die Luft.
In meiner Anwesenheit trank Jim Jeffreys niemals Alkohol und fragte mich auch nie, ob ich welchen wollte, aber als der Kellner kam, bestellte ich ein Glas Rotwein und beobachtete ihn, wie er versuchte, nicht überrascht oder enttäuscht oder sonst wie nicht Jim-Jeffreys-gemäß auszusehen.
Welchen Rotwein hätten Sie denn gerne
?, wollte der Kellner wissen, aber ich hatte keine Ahnung – Weinnamen kann ich mir einfach nicht merken, egal ob rot oder weiß, und auch nicht, welchen Teil des Namens man laut aussprechen muss, deshalb antwortete ich einfach:
Ihren Hauswein
. Jim Jeffreys bestellte ein Steak, ich eine Backkartoffel mit doppelter Füllung. Sobald der Kellner verschwunden war, stieß Jim Jeffreys einen zahnarztartigen Seufzer aus und sagte: »Nun, Libby, für uns beginnt nun also eine ganz neue Phase.«
»Wie viel ist denn noch übrig?«, fragte ich und dachte
sagzehntausendsagzehntausend
.
»
Liest
du eigentlich die Belege, die ich dir zuschicke?«
»Manchmal schon«, log ich wieder. Ich bekam gern Post, hasste es aber, sie zu lesen; die Belege lagen wahrscheinlich auf einem Haufen irgendwo bei mir zu Hause.
»Hast du meine Nachrichten
abgehört
?«
»Ich glaube, dein Handy ist irgendwie kaputt. Es verschluckt dauernd was.« Ich hatte mir seine Botschaften lange genug angehört, um zu wissen, dass ich in Schwierigkeiten war. Normalerweise stellte ich nach Jeffreys’ erstem Satz den Anrufbeantworter ab.
Hier ist dein Freund Jim Jeffreys, Libby
…, lautete seine Standardeinleitung.
Jetzt legte er die Fingerspitzen aneinander und streckte die Unterlippe vor. »Es sind noch 982 Dollar und 12 Cent in deinem Fonds. Wie gesagt, wir hätten ihn erhalten können, wenn du regelmäßig gearbeitet und ihn immer wieder aufgefüllt hättest, aber …« Er warf die Hände in die Luft und verzog das Gesicht. »So ist es nun mal leider nicht.«
»Was ist mit dem Buch, hat das Buch nicht …?«
»Tut mir leid, Libby, aber nein, das Buch hat nicht funktioniert. Das sage ich dir jedes Jahr. Natürlich ist das nicht deine Schuld, aber das Buch … nein. Es hat nichts gebracht.«
Vor Jahren hatte ein Verlag, der Ratgeber veröffentlichte, mich gebeten, darüber zu schreiben, wie ich »die Geister meiner Vergangenheit« überwunden hätte. Zwar hatte ich eigentlich so gut wie gar nichts überwunden, aber ich erklärte mich trotzdem bereit, eine Frau in New Jersey anzurufen, die das eigentliche Schreiben erledigte. Zu Weihnachten 2002 erschien das Buch mit einem Coverfoto, das mich mit einem extrem unvorteilhaften zotteligen Haarschnitt zeigte. Es hatte den Titel
Ein neuer Tag! Wie man ein Kindheitstrauma nicht nur überlebt, sondern über sich hinauswächst
und enthielt einige Fotos aus meiner Kindheit, von mir und meiner toten Familie, eingebettet in zweihundert Seiten populärpsychologisches Gelaber. Ich bekam achttausend Dollar dafür, und ein paar Selbsthilfegruppen luden mich zu einem Vortrag ein. Ich flog nach Toledo zu einem Treffen mit einem Mann, der sehr jung Waise geworden war, ich flog nach Tulsa zu einer Versammlung von Teenagern, deren Mütter vom jeweiligen Vater ermordet worden waren. Ich signierte das Buch für Kids, die vor Aufregung kaum
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