Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
verbreitete Trübsinn. Das war auch ein Wort, das meine Mutter gern benutzte:
trübsinnig
. Es bedeutete, dass man auf eine Art geknickt war, die andere Leute nervte. Ein aggressives Geknicktsein.
»Tja, warum nimmst du dir nicht einfach eine Woche Zeit und denkst mal drüber nach?« Jim Jeffreys verschlang den Rest seines Steaks mit energischen Gabelbewegungen. Jim Jeffreys wollte gehen. Jim Jeffreys war hier fertig.
Er verließ mich mit drei Briefen und einem Grinsen, das wohl aufmunternd wirken sollte. Drei Briefe, vermutlich alles Müll. Früher hatte Jim Jeffreys mir schuhkartonweise Post gebracht, und in den meisten Briefen waren Schecks. Die überschrieb ich ihm, und der edle Spender bekam einen Formbrief in meiner eckigen Handschrift. »Danke sehr für Ihre freundliche Spende. Menschen wie Sie helfen mir, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Mit freundliche Grüße, Libby Day.« Der grammatikalische Fehler war beabsichtigt, denn Jim Jeffreys glaubte, dass die Leute so etwas ergreifend fanden.
Aber die Zeiten der lukrativen Schuhkartons waren vorbei, ich hatte nur diese drei Briefe und den Rest des Abends totzuschlagen. Also machte ich mich auf den Heimweg, und mehrere Autos blendeten mich mit ihren Scheinwerfern, bis ich merkte, dass ich ohne Licht fuhr. Im Osten schimmerte die Skyline von Kansas City, eine bescheidene, mittelgroße Monopoly-Silhouette mit hier und dort einem spitzen Funkturm. Ich musste mir etwas einfallen lassen, womit ich Geld verdienen konnte. Etwas, was normale Erwachsene taten. Ich stellte mir mich mit Schwesternhäubchen und Thermometer vor. In einer schmucken Polizeiuniform, wie ich einem Kind über die Straße half. Mit Perlen und geblümter Schürze, wie ich für meinen Mann das Essen zubereitete.
So verkorkst bist du
, dachte ich.
Deine Vorstellung vom Erwachsensein stammt immer noch aus Bilderbüchern
. Und im gleichen Moment, als ich das dachte, sah ich vor mir, wie ich vor einer Horde Erstklässler mit Strahleaugen das Alphabet auf eine Tafel schrieb.
Ich versuchte, mir etwas Realistisches auszudenken – vielleicht etwas mit Computern? Dateneingabe – gab es nicht irgend so etwas als Job? Oder Kundenbetreuung. Ich hatte einen Film gesehen, in dem eine Frau ihren Lebensunterhalt damit verdiente, dass sie Hunde ausführte. Sie trug immer eine Latzhose und Twinsets, hatte Blumen in der Hand und wurde von den Hunden besabbert und geliebt. Allerdings mochte ich keine Hunde, sie machten mir Angst. Natürlich dachte ich schließlich auch an eine Farm. Schon über ein Jahrhundert waren meine Vorfahren Bauern gewesen, und auch meine Mom war Farmerin, bis Ben sie umbrachte. Nach ihrem Tod wurde die Farm verkauft.
Aber ich wüsste sowieso nicht, wie man eine Farm bewirtschaftete. Sicher, ich erinnerte mich noch an das Leben dort: Wie Ben durch den kalten Frühjahrsschlamm watete und Kälber scheuchte; wie meine Mom mit ihren rauen Händen in den Haufen kirschroter Körner griff, aus denen einmal Hirse werden würde; wie Michelle und Debby kreischten, wenn sie in der Scheune auf den Heuballen herumhüpften. »Das juckt!«, beklagte Debby sich immer und sprang dann gleich noch mal. Ich kann mich nie lange bei diesen Gedanken aufhalten, denn sie tragen ein besonderes Etikett, weil sie aus einer ganz gefährlichen Region stammen: Darkplace. Wenn ich mich zu lange bei dem Bild meiner Mutter aufhalte, wie sie versucht, die Kaffeemaschine wieder zusammenzubasteln, oder bei dem von Michelle, wie sie, die Socken bis zu den Knien hochgezogen, in ihrem Jerseynachthemd herumtanzt, dann bin ich mit einem Schlag in Darkplace. Grausig grellrote Geräuschfetzen in der Nacht. Das unerbittliche, rhythmische Schlagen der Axt, mechanisch, als würde sie Holz hacken. Gewehrschüsse in einem schmalen Korridor. Das panische Vogelgekreisch meiner Mutter, die versuchte, ihre Kinder zu retten, obwohl ihr Kopf nur noch zur Hälfte da war.
Was macht eine Verwaltungsangestellte?,
fragte ich mich.
Ich hielt vor meinem Haus, stieg aus und trat auf ein Stück Gehweg, auf das jemand vor Urzeiten »Jimmy liebt Tina« in den Beton gekritzelt hatte. Manchmal stiegen Phantasiebilder in mir auf, was aus dem Paar geworden war: Er war Baseballspieler in der Minor League, sie kämpfte als Hausfrau in Pittsburgh gegen ihre Krebserkrankung. Er war ein geschiedener Feuerwehrmann, sie Anwältin und voriges Jahr vor der Golfküste ertrunken. Sie war Lehrerin, er war mit zwanzig durch ein Aneurysma tot umgefallen. Es
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