Dark Room
doch beschützen, wenn ihr jemand wehtat, aber Gemma war im selben Moment klar, dass Lorina Alicia nicht helfen würde.
Sie konnte ihrer Schwester am nächsten Tag kaum in die Augen schauen. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und stellte sich vor ihre Mutter, die mit der Zeitung beschäftigt war. »Der Mann hat Alicia wehgetan«, sagte sie, »der darf das nicht.«
Lorina sah sie verdutzt an, dann holte sie ohne ein Wort aus und schlug Gemma so fest ins Gesicht, dass sich alle fünf Finger rot abdrückten. Gemma war im ersten Moment zu überrascht, starrte ihre Mutter nur an. Als sie zu weinen begann, zog Lorina sie zu sich auf den Schoß.
»Siehst du«, sagte sie mit säuselnder Stimme zu Gemma, »das habe ich getan, um es dir zu erklären, denn du bist ein kluges Mädchen. Wenn man dir wehtut, dann verstehst du das, und du erinnerst dich daran. Bei Alicia ist das etwas anderes.« Sie schob ihrer älteren Tochter das Nutella-Glas hin, das sie immer unter Verschluss hielt, weil Alicia nur einen Löffel davon haben durfte. Alicia strahlte und bohrte ihr Buttermesser tief in die braune, klebrige Masse und leckte genüsslich brummelnd das Messer ab. »Alicia kriegt nichts mit, mein Schatz. Sie versteht es nicht, und sie erinnert sich nicht. Sie ist nicht wie wir. Kein normaler Mensch. Sie ist eigentlich bloß eine Hülle, in ihr ist gar nichts. Dafür ist ihr Haar« – sie strich Alicia über den Kopf – »wirklich wunderschön.«
Gemma rutschte von Lorinas Schoß und ging schweigend aus der Wohnung. Auch als sie nach der Schule wiederkam, sagte sie kein Wort. Und abends schickte Lorina sie ins Bett und sagte zu Alicia, sie dürfe länger aufbleiben und noch ein Eis essen. Es klingelte. Ein anderer Mann kam. Alicia weinte sich später in den Schlaf.
Lorina warf Gemma nach ein paar Tagen des Schweigens vor, sie sei bockig, neide ihrer Schwester die Süßigkeiten, die die netten Onkel für Alicia mitbrachten, aber Gemma war nicht bockig, sie überlegte.
Von den Erwachsenen war keine Hilfe zu erwarten, das hatte sie verstanden, denn als sie ihrer Lehrerin in der Schule etwas erzählen wollte und damit angefangen hatte, dass sie ihre Schwester nackt im Flur gesehen hatte, war die böse geworden. »So was sagt man nicht«, hatte die Lehrerin geschimpft, »darüber spricht man nicht. Und man schaut auch niemanden an, der nackt ist.« Sie hatte Gemma wie ein ekliges Insekt behandelt und weggeschickt. Andere Erwachsene kannte Gemma nicht. Also kam sie zu dem Schluss, dass sie es selbst in die Hand nehmen musste, wenn sie Alicia beschützen wollte.
Sie wartete, bis ihre Mutter einkaufen ging. Etwa eine Stunde würde sie Zeit haben, das musste reichen. Sie plauderte auf Alicia ein und nahm sie mit ins Badezimmer, setzte sie auf die Toilette und streichelte ihr Haar. Und ohne dass Alicia es merkte, zog sie die Küchenschere aus ihrer Hosentasche und begann, Strähne um Strähne abzuschneiden. Als ihr nichts mehr zu erzählen einfiel, sang sie, erst Kinderlieder, dann alles, was sie sonst noch kannte, am Schluss waren es Weihnachtslieder, aber das störte ihre Schwester nicht. Bald saß Alicia mit einem zotteligen Kurzhaarschnitt vor ihr, und die schönen roten Locken lagen um das Waschbecken und in der Wanne. Alicia verzog das Gesicht, als sie das sah, und Gemma befürchtete, sie würde anfangen zu weinen, und das hätte sie nicht ausgehalten. Außerdem würde Lorina bestimmt wieder sagen, sie hätte es aus Neid getan. Also hockte sie sich vor Alicia hin, sang weiter und begann, sich die eigenen, nicht ganz so schönen braunen Haare abzuschneiden.
Sie war fast fertig mit ihrem Igelschnitt, da stand Lorina plötzlich in der Tür und stürzte sich auf Gemma, als wäre dadurch noch irgendetwas zu retten.
Gemma schubste Alicia aus dem Bad und ließ sich von ihrer Mutter windelweich prügeln. Danach nahm Lorina einen Rasierapparat und schor Gemma die restlichen Haare auch noch ab. Und obwohl sie dabei besonders grob war, tat das merkwürdigerweise gar nicht so weh, und Gemma wusste, dass es irgendwann vorbeigehen würde. Auch Alicia, die neugierig in der Tür stand, zerrte Lorina zurück auf den Wannenrand und bearbeitete sie mit dem Rasierer.
Es kamen keine Männer mehr, und Alicia lachte wieder öfter. Lorina verpasste den Schwestern absoluten Hausarrest und behauptete in der Schule, Gemma habe Pfeiffer’sches Drüsenfieber. »Selbst schuld«, sagte sie zu ihr, »für so hässliche Mädchen muss man sich schämen.
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