Dark Room
dass Lorina dich bei eurem letzten Besuch Eule genannt hat, wusste ich, dass sie das Labyrinth kennt und selbst einen Nickname haben muss.«
Fiona krümmte sich auf ihrem Sessel zusammen und verkroch sich, soweit es ging, als Lorina die Hand nach ihr ausstreckte.
»Das darfst du nicht persönlich nehmen, Engelchen«, sagte Lorina, »im Tierreich ist das nicht anders. Glaubst du, wenn ein Bär einen Fuchs frisst, meint er das persönlich? Der macht nur, was die Natur ihm sagt. Außerdem kannte ich dich kaum und auch deine Eltern nicht, ihr wart praktisch Fremde für mich, und mit fremden Leuten hat man nun mal kein Mitleid, das ist ganz natürlich.«
Während sie zu Fiona sprach, hatte Lorina sich mühsam aufgerichtet und nach vorn gebeugt und kramte nun in der Cupcake-Tasche herum, die Gemma offen auf die Bettdecke gestellt hatte. »Du brauchst dein Medikament gar nicht zu suchen, ich hab es ausgetauscht, du wirst dich nicht mit Morphium abschießen.« Gemmas Gesicht war ganz regungslos. »Da ist jetzt nur Bullrich-Salz drin.«
Immer noch stumm schluchzend griff Fiona nach der Teetasse, die vor ihr stand, aber in letzter Sekunde nahm Püppi sie ihr weg und roch misstrauisch daran.
»Gehört die Schwester dazu?«, fragte er Gemma.
Die zuckte mit den Schultern. »Ich kenne sie nicht …«
Der Satz blieb zwischen ihnen schweben, und alle drei sahen sich entsetzt an. Sie wussten sofort, was das bedeuten würde.
Püppi rannte zur Küchentür, man hörte Geschirr auf dem Boden zerschellen und einen Stuhl umfallen. Eine Frauenstimme fluchte mit einem hohen Keifen in einer Sprache, die die anderen nicht verstanden, trotzdem war es unmissverständlich. Dann kam er mit der Schwester im Polizeigriff wieder heraus.
»Sie saß am Laptop«, sagte er, »die Labyrinth-Website war offen, und sie bediente gerade Lorinas Account, aber bisher hat sie nicht mehr geschrieben, als zu fragen, wer zur Zeit online ist.«
Gemma sprang auf und kramte im unteren Fach eines Wohnzimmerschranks herum, bis sie eine Rolle Packband gefunden hatte. Fiona holte einen Küchenstuhl, sie zwangen die Schwester, sich zu setzen, und obwohl sie mit den Beinen strampelte, sich wand und drehte, gelang es Püppi, sie festzuhalten, während Gemma mit dem Klebeband um sie herumlief und sie damit umwickelte, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Den Mund verklebten sie ihr auch, und einer Eingebung folgend steckte Püppi ihr noch die Kopfhörer seines iPods in die Ohren und drehte die Lautstärke hoch. »Sie muss das nicht mitkriegen«, sagte Püppi und setzte sich auf Fionas Sessellehne.
Eine Weile sprach niemand ein Wort. Fiona war so erschöpft, dass ihre Augenlider sich wie Blei anfühlten. Sie fuhr zusammen, als Gemma sich zu ihr beugte und ihr übers Haar streichelte.
»Eule? Weißt du wirklich nicht, wer ich bin? Erkennst du mich kein bisschen? Nicht mal, wenn du dich an ganz früher erinnerst?«
Fiona starrte sie an, sie suchte in ihren Erinnerungen, übertrat die Schwelle, die sie immer vermieden hatte, ging gedanklich zurück in das blaue Badezimmer, und weiter zurück, erst bis zum Frühstück des Tages, an dem ihre Eltern ermordet worden waren und an dem noch alles seine Ordnung gehabt hatte, dann weiter zurück. Gemma summte, und dieses Summen war es, das Ordnung in Fionas Gedanken brachte. Diesem Summen konnte sie folgen wie einer Schnur, Kieseln auf dem Boden oder dem Schein einer Taschenlampe. Ganz leise und fast ohne die Lippen zu bewegen, begann Gemma mit ihrer heiseren, rauchigen Stimme zu singen: »Hinter den Spiegeln, hinter den Spiegeln, da ist ein fremdes Land. Hinter den Spiegeln, hinter den Spiegeln, Wunderland genannt.«
Und plötzlich hatte Fiona ein flaues Gefühl im Magen, wie wenn man auf einer Schaukel sitzt und selbst nicht weiß, ob man Angst hat, herunterzufallen, oder ob man noch höher fliegen will. Und sie spürte Hände in ihrem Rücken, die sie anstießen. Und sie hörte ein Mädchen lachen, nein, zwei. Sie selbst saß auf der Schaukel und klammerte sich mit beiden Händen an den Seilen fest. Sie war in einem Garten, und die Schaukel quietschte und ächzte bei jedem Schwung. Sie drehte sich um und sah in die Gesichter zweier Mädchen, beide älter als sie, eine mit wachen dunklen Augen und glattem braunem Haar und eines mit einfältigem Blick und offen stehendem Mund, dem die roten, dichten Locken bis zur Taille fielen.
Fiona fühlte sich, als würde sie aus einem tiefen Schlaf erwachen, sie sah auf und schaute
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