Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
ein unerschöpfliches Repertoire von Rollen verfügt, womit sie die Masse betören kann. Im Verlauf des Romans ist Mame, abgesehen von vielen anderen Beschäftigungen, denen sie nachgeht, mal eine knicksende Südstaatenschönheit, mal eine Lodencape tragende Schriftstellerin unbestimmter anglo-irischer Herkunft, mal eine Sari behangene Yoga-Anhängerin. Der ständige Wechsel von Charakter, Dialekt und Beruf hat weitgehend damit zu tun, dass sie leidenschaftlich gern in eine neue Rolle und damit in neue Kleider schlüpft. Allein Hüte sind für Mame schicksalsträchtig. Mame sonnt sich in der Erfindung ihrer selbst. Damit beflügelt sie aber nicht nur die Phantasie eines Kindes, das macht sie auch zu einem Vorbild für die Fummeltrinen dieser Welt. Mame verkörpert den Triumph des Fummels für jede sexuelle Orientierung: Die Aussicht auf eine neue Haarfarbe, ein neues Diadem oder auf ein Paar neue Reithosen kann als Zeichen der Hoffnung gelten.
Als Darling, ich bin deine Tante Mame 1955 erschien, wurde das Buch sofort zu einem Bestseller, noch ehe die fast einhellig hymnischen Rezensionen eintrudelten. Für die apathische Donna-Reed-Ära muss das Buch ein ideales Tonikum gewesen sein. Während die fünfziger Jahre die amerikanischen Vorstädte als eine Art Familienparadies auswiesen, pries Tante Mame das aufrührerische Manhattan, schicke Penthäuser und Menschen wie Mames beste Freundin Vera Charles, » eine berühmte Schauspielerin aus Pittsburgh, die sich mit solch ausgeprägter Mayfair-Eleganz ausdrückte, dass man kaum ein Wort verstand « .
Mame Dennis, eingehüllt in Chanel-Chiffon, » mit einem Hauch von Zobel « , war das berauschend parfümierte Gegengift zu Mamie Eisenhower in ihren schäbigen Hemdblusen und der züchtigen Ponyfrisur. Wenn Tante Mame einen Feind hat, dann die aggressiv dumpfen Durchschnittsbürger, Leute wie die Upsons, ein Clan, mit dem sie kurzzeitig verbunden ist. » Die Upsons lebten so, wie alle Familien in Amerika leben wollten – nicht reich, aber wohlhabend. Von allem besaßen sie zwei – zwei Adressen, die Wohnung in der Park Avenue und ein Haus in Connecticut; zwei Autos, eine Buick-Limousine und einen Ford Kombi; zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen; zwei Angestellte, einen Diener und ein Hausmädchen; sie waren Mitglieder in zwei Klubs, einem in der Stadt und einem auf dem Land, und sie hatten zwei Interessen, Geld und gesellschaftliche Stellung. «
Wenn Mame ein Anliegen hat, dann ist es ihr entschiedenes Eintreten für das Vergnügen und gegen den Dünkel. Zu Patricks gelegentlichem Kummer nimmt sie verbal immer wieder Snobs und Heuchler auseinander. Sie ist die klassische Figur der linken Aktivistin, die Diamanten und Dior trägt. Während im Buch Seitenhiebe gegen Antisemiten und Rassisten ausgeteilt werden, bleiben die wahren Gehässigkeiten den Verbrechen am guten Geschmack vorbehalten; das Haus der Upsons zählt sich zum » Typ malerisches Landhaus im Kolonialstil. Es gab Kutscherlampen, Ratschenlampen, Lampen mit Emailfüßen und Lampen aus Butterfässern, Kaffeemühlen und Apothekergläsern « . Mame toleriert alles, ausgenommen » Bettwärmer, alte Blasebälge, Messinguntersetzer und lustig gemeinte Sticktücher, ebenso Spy-Karikaturen, Jagdstiche, vergilbte Landkarten und spröde Daguerreotypien « . Für Mame sind konventionelles Denken und historischer amerikanischer Dekor ein Gefängnis; sie spricht sich für totale sexuelle Freizügigkeit, für das Sammeln von Erfahrung durch Weltreisen und » die fiebrige Spannung eines kreativen Berufes « aus. Mame ist der Ansicht, das Leben müsse Kunst sein und die ganze Welt sei ihr Publikum.
Als kluger Satiriker verschont Tante Mames Autor seine Hauptfigur nicht: Mame wird belächelt und bewundert, für ihre eigene Affektiertheit und für ihren bühnenreifen Irrsinn. Sie ist eitel, sie hat Angst vorm Altern, sie schäkert mit jüngeren Hochstaplern, und beim großen Börsenkrach verliert sie ein Vermögen. Nachdem sie es erst zaghaft mit Erwerbstätigkeit versucht, stattet ihr Schöpfer sie flugs mit einem sie anbetenden, millionenschweren Ehemann und nachfolgender vergoldeter Witwenschaft aus. Der Autor Patrick Dennis liebt Mame, aber nie beharrt er darauf, dass wir sie allzu ernst nehmen. Sie ist ein kunstvolles Stück Konfekt, ein prachtvoll gearbeitetes Stück Nippes. Diese Sorte lässig leichter Sittenstücke gehört zu den gefürchtetsten Genres in der Literatur; himmlische Geschöpfe können rasch ermüden.
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