Darwinia
»Treten Sie bitte ein.«
Sie trat in den Türrahmen, schloss den Schirm und ließ ihn ohne Umschweife in den hohlen Elefantenfuß fallen. Sie blinzelte, als er die Tür schloss. Vale bevorzugte gedämpftes Licht. An trüben Tagen wie heute stellte sich das Auge nur träge um. Das war gefährlich für die Navigation, doch die Atmosphäre zählte: Er betrieb schließlich das Geschäft des Unsichtbaren.
Und die Atmosphäre tat ihre Wirkung bei Mrs. Sanders-Moss. Vale versuchte, sich die Szene aus ihrer Perspektive vorzustellen, den verblassten Glanz dieses gemieteten Reihenhauses auf der falschen Seite des Potomac. Regale mit viktorianischen Bronzen: griechische Ringkämpfer, Romulus und Remus nuckelten an den Zitzen einer Wölfin. Japanische Drucke, die sich im Schatten versteckten. Und Vale selbst, vorzeitig weißes Haar (zweifellos ein Pluspunkt), korpulent, das Jackett mit Samt besetzt, unscheinbares Gesicht aufgewogen durch lebhafte und scharfe Augen. Grüne Augen. Er war ein Glückskind: Haar und Augen waren überzeugend, stellte er immer wieder fest.
Er wob ein Gespinst aus Schweigen. Mrs. Sanders-Moss wurde nervös und sagte schließlich: »Wir haben einen Termin…?«
»Natürlich.«
»Mrs. Fowler hat Sie…«
»Ich weiß. Bitte kommen Sie in mein Studio.«
Er lächelte wieder. Was sie wollten, diese Frauen, war jemand Outriertes, Unirdisches… ein Monster, aber ihr Monster; ein domestiziertes Monster, aber nicht handzahm. Er führte Mrs. Sanders-Moss durch Samtvorhänge in ein kleineres Zimmer, in dem ringsherum Bücher standen. Die Bücher waren alt, schwer und imposant, es sei denn, man machte sich die Mühe, die verblasste Goldprägung auf dem abgewetzten Rücken zu entziffern: Sammlungen von Predigten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Vale auf der Versteigerung einer Farm erstanden hatte, für ein paar Pfennige. Das Arkanum [14] schlechthin, wie die Leute glaubten.
Er dirigierte Mrs. Sanders-Moss in einen Lehnstuhl und nahm hinter der polierten Tischplatte Platz. Sie sollte nicht merken, dass er auch nervös war. Mrs. Sanders-Moss war keine gewöhnliche Klientin. Sie war die Beute, an die er sich seit mehr als einem Jahr herangepirscht hatte. Sie hatte gute Beziehungen. Auf ihrem Landsitz in Virginia unterhielt sie einen monatlichen Salon, zu dem viele intellektuelle Leuchten der Stadt kamen – zusammen mit ihren Frauen.
Er wollte unbedingt Eindruck schinden.
Sie faltete die Hände im Schoß und fixierte ihn mit ernstem Blick. »Mrs. Fowler hat Sie mir wärmstens empfohlen, Mr. Vale.«
»Doktor«, stellte er richtig.
»Dr. Vale.« Sie war immer noch argwöhnisch. »Ich bin keine leichtgläubige Frau. Normalerweise konsultiere ich keine Spiritisten. Aber Mrs. Fowler war sehr beeindruckt von ihren Auslegungen.«
»Ich lege nicht aus, Mrs. Sanders-Moss. Hier gibt es keine Teeblätter. Ich will ihre Hand gar nicht sehen. Keine Kristallkugel. Keine Tarotkarten.«
»Ich wollte Sie nicht…«
»Ich bin nicht gekränkt.«
»Nun, sie hält viel von Ihnen. Mrs. Fowler, meine ich.«
»Ich erinnere mich an die Lady.«
»Was Sie ihr über ihren Gatten gesagt haben…«
»Freut mich, dass es ihr gefallen hat. Und Sie? Was führt Sie zu mir?«
Sie legte die Hände in den Schoß. Selbstbeherrschung vielleicht, der Drang wegzulaufen.
»Ich habe etwas verloren«, flüsterte sie.
Er wartete.
»Eine Haarlocke…«
»Von wem?«
Die Würde schmolz dahin. Jetzt das Geständnis. »Von meiner Tochter. Meiner ersten Tochter. Emily. Sie starb mit zwei Jahren. Diphtherie, wissen Sie. Sie war ein vollkommenes kleines Mädchen. Als sie krank war, nahm ich ihr die Locke ab und verwahrte sie mit anderen Dingen. Eine Rassel, das Taufkleidchen…«
»Alles weg?«
»Ja! Aber die Locke… das ist wohl am schlimmsten. Die Locke ist doch alles, was ich von Emily noch habe.«
»Und ich soll Ihnen helfen, die Sachen zu finden?«
»Wenn es Ihnen nicht zu trivial ist.«
Er gab seiner Stimme einen weichen Klang. »Ich finde das überhaupt nicht trivial.«
Ihr Blick verriet überschwängliche Erleichterung: Sie hatte sich eine Blöße gegeben, und er hatte nichts getan, um sie zu verletzen; er hatte sie verstanden. Es ist immer das gleiche Spiel, dachte Vale, dieser Ringelreigen von Scham und Erlösung. Ob es Ärzten, die Geschlechtskrankheiten behandelten, auch so erging?
»Können Sie mir denn helfen?«
»Offengestanden, ich weiß es nicht. Ich kann es versuchen. Aber Sie müssen mir helfen. Nehmen Sie meine
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