Das 2. Gesicht
sind doch hier unser Fels in der Brandung“, sagte er und tätschelte mir, genau wie vorher Aletha, die Schulter. „Sie lesen ihm vor?“, fragte er und schaute über meine Schulter auf die Ausdrucke in meiner Hand.
„Ja, ich diskutiere seinen neuen Roman mit ihm“, sagte ich und versuchte ein Lächeln.
„Sehr gut, das ist sehr gut, sorgen Sie dafür, dass er am Leben teilhat. Man weiß nie, ob er nicht doch etwas versteht. Sie machen das wunderbar, Tag für Tag an seiner Seite. Ich muss jetzt gehen.“
Dr. Desmond verschwand endlich aus dem Zimmer. Ich hoffte, dass er gesehen hatte, woraus ich angeblich vorgelesen hatte. Dann zitierte ich den Epilog, den ich auswendig gelernt hatte:
Epilog „Romeo und Julia“ von George Osterman
Sie wusste es. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sein Racheengel. Und trotzdem liebte sie ihn. Das war das Mirakel seines Lebens, das Wunder, das er nicht begreifen konnte. Er hatte Reichtümer angehäuft, von denen andere nicht einmal zu träumen wagten. Aber sie war der größte Schatz seines armseligen kleinen Lebens, der einzige Sonnenstrahl, der je sein Herz erreicht hatte.
Es war alles so vorbereitet, dass ihr nichts passieren würde. Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Niemals würde sie zulassen, dass die Welt erfuhr, wer er wirklich war. Niemand durfte sein zweites Gesicht sehen. Niemand durfte Amerika seiner Ikone berauben. Er wusste nicht, wie und wann es geschehen würde, aber er wusste so sicher, wie jeden Morgen die Sonne wieder aufging, dass es geschehen würde.
Sie würde sich über ihn beugen und ein Kissen auf sein Gesicht drücken. Solange, bis sein letzter Atemzug getan war. Sie war sein Racheengel: Julia.
Der Racheengel stand auf und zog das Kissen, auf dem sein Kopf lag, unter ihm weg. Ich beugte mich über ihn und drückte es auf sein Gesicht. Solange, bis sein letzter Atemzug getan war.
Draußen vor der Tür
Es dauerte nicht lange, bis sie kamen. Sie liefen alle zusammen, die Schwestern und die Ärzte. Dann riefen sie die Polizei. Das mussten sie. Und natürlich mussten die mich mitnehmen. Aus gefährlicher Körperverletzung war jetzt Totschlag geworden. Auch wenn es Notwehr war, ich musste mit ihnen mitfahren. Vorher war ich vor die wartenden Journalisten getreten und hatte gesagt: „George Osterman ist tot. Er ist soeben gestorben.“
An diesem Tag war ich die meist gehasste Frau Amerikas. Mein verheultes Gesicht auf dem Rücksitz des Polizeiwagens flimmerte von allen Bildschirmen zwischen Boston und Seattle.
Seine Fans streuten Blumen auf die Treppen zu den Bibliotheken, sie entzündeten Kerzen, schrieben Karten. Jugendliche brachen weinend in Buchhandlungen zusammen, die Fangemeinde war vereint in fassungslosem Schmerz. Eine spindeldürre, asiatisch aussehende Studentin schluchzte in die Kamera von NBC: „Das darf nicht sein, das darf einfach nicht wahr sein!“
All das erreichte mich wie durch einen Nebel. Es war, als ob mich jemand in Styropor eingewickelt hätte. Es ging mich nichts an. Nicht mehr. Die Verlagsfrau in mir dachte, dass der Absatz der Osterman-Thriller jetzt in astronomische Höhen schießen würde. Was für ein absurder Gedanke, wenn man bedenkt, in welcher Situation ich mich befand.
Ein halbes Jahr später
Die Sonne steht blutrot am Horizont. Sandra hat schon einen leichten Sonnenbrand auf der Schulter.
„Du solltest hier in den Schatten kommen“, rufe ich ihr vom überdachten Steuerstand des Bootes zu, „sonst pellst du dich morgen!“ Ihre langen braunen Haare, die hinten aus dem Basecap hängen, flattern im Fahrtwind.
Wir hatten am Nachmittag das Boot in Pine Island flott gemacht für eine kleine Sunset-Ausfahrt. Sandra kramt in der Kühlbox und kommt mit zwei eisgekühlten Margaritas, die wir uns vorher gemixt hatten, zu mir nach vorn. Mit Salzrand, versteht sich.
Sandra war zu meinem Prozess zurück nach Amerika gekommen, um als Zeugin für mich auszusagen. Nachdem George plötzlich und unerwartet verstorben war, lautete die Anklage nicht mehr auf gefährliche Körperverletzung, sondern auf fahrlässige Tötung. Das war vorauszusehen und hatte mich damals auch nicht mehr mit Panik erfüllt. Was mich wirklich panisch gemacht hatte, war meine Tat an sich. Denn das las sich bei George einfacher, als es getan war.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich das Kissen drücken musste, wie fest, damit ihm wirklich die Luft wegblieb, man später aber keine Spuren finden konnte, ich wusste nicht, wie ich
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