Das 2. Gesicht
etwa, dass ich zu J.R. wollte? Ich suchte seine letzten Dateien. Belangloser Austausch mit Kollegen über Buchmessen, Amazon-Abrechnungen und E-Book-Verkäufe, Postings über seine Facebook-Seiten, Anweisungen an J.R., was noch in die Steuererklärung rein musste. Nichts, was mich irgendwie schlau gemacht hätte. Ich suchte nach seinem neuen Roman, den, an dem er schrieb, seitdem wir verheiratet waren. Ich hatte ihn gefragt, ob er schon einen Titel habe, und er hatte gesagt, nein, er wisse es noch nicht so genau, im Moment laufe das Ding unter dem Arbeitstitel „Romeo und Julia“. „Wie passend“, hatte ich damals gesagt und gelacht. Es gab eine Datei, die genau so hieß. Ich öffnete sie. 220 Seiten. Ich lehnte mich in dem Drehsessel zurück und fing an zu lesen. Es war, wenn auch noch unredigiert, ein echter, wunderbarer Osterman. George schaffte es immer wieder, die Leser von der ersten Seite an in den Bann zu ziehen, es kamen überraschende Wendungen dazu und das Ende war immer noch einmal anders, als seine Leser gedacht hatten.
Es muss mitten in der Nacht gewesen sein, ich hatte die Zeit vergessen, als ich endlich zum Ende von „Romeo und Julia“ kam. Bei dem Epilog hatte ich Tränen in den Augen. Ich druckte Prolog und Epilog aus, den Anfang und das Ende, es war Zeit nach Hause zu fahren. Nicht, dass mich der lange Weg zurück nach Fort Myers jetzt gelockt hätte, aber ich wollte auf keinen Fall in diesem Haus übernachten. Es war Georges Haus, sein Refugium, ich hatte es zu akzeptieren. Also schloss ich die Datei. Noch schnell einen Blick ins Schlafzimmer, sagte ich mir, und dann nach Hause.
Im Schlafzimmer erwartete mich ein ungemachtes Bett, ein Tablet, das neben dem Bett auf einem Nachttisch lag, daneben ein Glas mit abgestandener Cola. Gegenüber dem hohen Bett, das von vier hohen Pfosten an den Außenseiten eingerahmt war, prangte ein riesiger Fernseher an der Wand. In der Ecke stand ein gemütlicher, schwarz geblümter Ohrensessel, auf dem achtlos T-Shirts und Jeans geschmissen worden waren. Ich warf einen Blick ins Bad, auch das schien verlassen worden zu sein, um gleich wiederzukehren.
Hier war jedenfalls kein Putzdienst am Werk und keine Elly, die jeden Krümel hinter ihm wegsaugte. Über der Duschkabinentür hing ein lässig hingeworfenes Handtuch und die Badematten waren ein wenig zerkrumpelt. Die Zahnpastatube war zerdrückt und der Schraubverschluss saß nicht auf seinem Bestimmungsort.
Ich warf noch einen Blick in das Ankleidezimmer. Das ist etwas, was ich an Amerika wirklich schätze, denn ich hasse Schränke. Hier hat jedes Schlafzimmer ein oder zwei Ankleidezimmer, oder besser Ankleidekabinen, denn sehr groß sind diese Dinger nicht, aber groß genug, um die Garderobe einer Diva unterzubringen und sich selbst darin noch umdrehen zu können. Apropos Diva. Damenunterwäsche oder Frauenkleider, wie J.R. behauptet hatte, gab es hier jedenfalls nicht.
Mein lieber George, ich habe gar nicht geahnt, was du für eine Schlampe bist! Es hing eigentlich gar nichts an den Stangen außer leeren Bügeln und einigen Hemden, die noch gesammelt unter dem Zellophanüberzug der Reinigung auf dünnen Drahtbügeln steckten. Dafür lagen mehrere Jeans unordentlich zusammenfaltet auf der Ablage, T-Shirts und Polohemden waren achtlos über die Ablage geschmissen worden. Ich knipste das Licht aus und ging in den danebenliegenden Gästetrakt, um auch dort einmal einen Blick hineinzuwerfen. Hier sah es ziemlich verlassen aus. Also richtete ich meine Schritte wieder Richtung Wohnzimmer, das George ja als riesige Schreibstube eingerichtet hatte. Beim Laufen fiel mir etwas auf. Irgendwie fehlte was. Ein Zimmer. Ich spürte, dass es noch irgendwo ein Zimmer geben musste. Vielleicht versteckt hinter der gigantischen Bücherwand, die das Arbeitszimmer links begrenzte. Aber ich hatte keinen Eingang gesehen. Ein so großes Haus hat ein Esszimmer, aber wo war es hier geblieben?
Ich drehte mich noch einmal um und ging zurück in Georges Gästetrakt. Hhm. Hatte ich irgendwas übersehen? Ich machte kehrt und ging in Georges Schlafzimmer. Langsam wurde mir heiß, obwohl die Klimaanlage das Haus auf 72 Grad Fahrenheit herunterkühlte. Hier konnte keine Tür sein, es gab Fenster auf der einen Seite und Badezimmer und Ankleidezimmer auf der anderen Seite. Auf einer Seite stand das Bett, auf der anderen ein riesiger TV-Bildschirm über einer Anrichte. Also noch mal ins Ankleidezimmer. Wieder lächelten mich die Hemden unter
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