Das 2. Gesicht
zu übersehen. Wie schon das Haus von J.R. auf Captiva rief mir dieses Haus schon von Weitem zu: George Osterman.
Es stand am Ende einer Privatstraße und sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, es war ebenso im Florida-Key-Stil gebaut, wie das von J.R. Auch dieses Haus war ein wenig vom Meerwind angeknabbert, was ihm einen authentischen Charme gab. Es war eingebettet zwischen Pinien, riesigen Bananenpflanzen und einem großen Mandarinenbaum. An der Treppe hing eine überreife Papaya an einem Ast direkt über den Stufen, umschwirrt von kleinen Wespen. Allerdings wirkte das ganze Anwesen nicht gepflegt, sondern so, als ob der Gärtner mal dringend wieder vorbeikommen müsse. Das Ganze sah so wildromantisch aus, dass ich zu einem anderen Anlass wahrscheinlich gejubelt hätte. Mit klopfendem Herzen stieg ich die hölzerne Treppe hoch, deren Stufen sich leicht wellten und bedenklich knarzten. Wie schon bei J.R. fand ich auch hier den Schlüssel über der Tür. Thrillerautor? Na ja, sie haben ja recht, diese Häuser sind nicht einbruchsicher, warum sollte man also etwaigen Einbrechern das Leben schwer machen.
Ich öffnete die Tür, die Klimaanlage lief auf höchster Stufe. Draußen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt, so dass ich jetzt das Licht anschalten musste. Was für ein gemütliches Haus!
Warum, George, warum nur hast du mich in dieses Neuschwanstein für Arme verschleppt?, fragte ich mich wieder und hatte plötzlich das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Im Gegensatz zu der Hütte von J.R. war in diesem Haus alles auf die Arbeit eines Schriftstellers eingerichtet. Die Wände unter der spitzwinklig zulaufenden Decke waren bedeckt mit Bücherregalen aus amerikanischer Kirsche. Ich schaute mir ein paar Buchrücken an. Hier gab es auch Bücher, die George nicht geschrieben hatte, die gesamte Krimi-Range war vorhanden. Von Edgar Allan Poe bis Patricia Highsmith, von Agatha Christie bis James Patterson. George hatte seine Kollegen gründlich studiert und so wie die Büchersammlung aussah, nicht erst seit gestern.
Er hatte sich den Kirschholz-Schreibtisch so gestellt, dass er sowohl zur Seite auf das Meer hinausschauen konnte und trotzdem den ganzen wunderbaren Raum im Blick hatte. Vor dem Schreibtisch standen zwei ausladende Leder-Sofas, daneben jeweils Beistelltische mit gemütlichen Lampen.
Von dem Raum ging eine große Küche ab. Ich schaute hinein, sie sah genauso aus, wie man sich die Küche eines hart arbeitenden Junggesellen vorstellte: Mikrowelle und Kaffeemaschine. Als ich die Gefrierkombination sah, hatte ich Beklemmungen. Sollte ich ihn öffnen? Die Szene, wie ich den Gefrierschrank bei J.R. geöffnet hatte und darin abgeschlagene Köpfe erwartet hatte, trat vor meine Augen. Stattdessen hatte ich darin einen Revolver gefunden, mit dem ich vor Schreck meinen Gatten durchlöchert hatte.
Zögernd öffnete ich den Gefrierschrank und dann sackte ich in mich zusammen. War dieses klägliche Jaulen wirklich eben aus meinem Mund gedrungen? Ich saß in der Hocke vor dem geöffneten Kühlschrank und schluchzte.
Ich ließ mich auf den Marmorboden fallen und heulte. Die ganze Anspannung der letzten Tage, die aufgestaute Angst der letzten Wochen, entluden sich hier auf der Erde in der Küche meines Mannes. Warum? Warum? Warum hatte er mich nie hierher mitgenommen?
Ich schlug mit der Faust auf die Erde. Gefühle wie Wut, Erniedrigung, Enttäuschung, Trauer erfassten mich, die ich genauso wenig kontrollieren konnte wie meine Tränen.
„Du Arschloch, du gottverfluchtes Arschloch!“, schrie ich in die Leere des Hauses. Was eigentlich hatte ich erwartet, in diesem Eisschrank zu finden? Außer Pizza, Enchiladas, Chicken Wings und Hamburger? Julia! Was hast du erwartet?, fragte ich mich.
Ich rappelte mich von der Erde hoch und ging zu seinem Schreibtisch. Englischer Stil, in amerikanischer Kirsche, mit einem dunkelgrünen Chesterfield-Drehsessel dahinter, der den beruhigenden Geruch von altem Juchtenleder verströmte. Sehr stilvoll. Ich knipste die grüne Bibliotheksleuchte an, die seinen Schreibtisch in eine warme, gemütliche Insel tauchte. Im Gegensatz zu J.R. hatte George nur einen einzigen Computer auf dem Schreibtisch stehen. Ich brauchte den Computer gar nicht anzuschalten, er lief noch, ich brauchte nicht einmal nach irgendeinem Passwort zu suchen. Hallo?
Wie konnte denn ein erfolgreicher Thrillerautor so unvorsichtig sein! Er schien in Panik das Haus verlassen zu haben. Wusste er
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