DAS 5. OPFER
dessen Leiche man nie gefunden hatte. Die anderen waren so öffentlich ausgestellt worden, aber alles, was sie jemals von Vera fanden, war ihre rechte Hand.
Was war es, das Vera anders machte?
»Hallo?«, stammelte Reggie.
Sag etwas, verdammt, befahl sie sich. Atme dieses Mal nicht bloß.
»Regina? Hier ist Lorraine.«
»Oh, guten Morgen«, sagte Reggie durch zusammengebissene Zähne. Sie setzte die kleine Keramiktasse ab und schüttelte ihre schmerzende Hand, ärgerlich darüber, dass sie sich verbrannt hatte, weil sie sich für Lorraine abgehetzt hatte. Warum zur Hölle rief ihre Tante zu dieser Stunde an? Gewöhnlich rief sie jeden Sonntag um fünf an. Und Reggie gelang es oft, dann abwesend zu sein. (Oder zumindest gab sie vor, es zu sein – in einer Ecke lauernd, mit einem Glas Pinot Noir in der Hand, versteckte sie sich wie ein Kind, als könnte das rote Auge des Anrufbeantworters sie sehen, während sie der körperlosen Stimme ihrer Tante zuhörte.)
»Ich habe gerade einen Anruf von einer Sozialarbeiterin unten in Massachusetts bekommen.« Das war typisch Lorraine – sofort zur Sache zu kommen – keine nutzlose Einleitung über das Wetter oder irgendein dummes »Hier ist alles in Ordnung, wie geht es dir?«. Es gab eine lange Pause, während Reggie wartete, dass sie weitersprach. Doch das tat sie nicht.
»Lass mich raten«, sagte Reggie. »Sie hat gehört, was für eine gestörte und traumatisierte Familie wir sind, und hat ihre Dienste angeboten.«
Reggie konnte beinahe sehen, wie Lorraine mit den Augen rollte, missbilligend über die Oberseite ihrer Brille und ihre Nase hinabblickte. Lorraine, die in der Küche mit der verblassten Tapete stand, ihre Haare zu einem Dutt zusammengenommen, der so straff war, dass er die Falten auf ihrer Stirn glattzog. Und sie trug natürlich Großpapa Andrés alte Fischerweste, fleckig und nach Jahrzehnten von toten Forellen stinkend.
Reggie griff wieder nach der Espressotasse und nahm einen Schluck.
»Nein, Regina. Es scheint, dass sie deine Mutter gefunden haben. Lebend.«
Reggie spuckte den Kaffee aus, ließ die Tasse auf den Boden fallen, beobachtete, wie sie in Zeitlupentempo fiel, wie dunkler Espresso die nachhaltig angebauten Bodenbretter bespritzte.
Das war nicht möglich. Ihre Mutter war tot. Sie alle wussten das. Sie hatten vor fünfundzwanzig Jahren einen Gedenkgottesdienst abgehalten. Reggie konnte sich immer noch an die Horden von Reportern draußen erinnern, daran, dass der Prediger nach Alkohol gerochen hatte und dass Lorraines Stimme gezittert hatte, als sie das Dickinson-Gedicht »Der Tod hielt freundlich für mich an« gelesen hatte.
Schließlich flüsterte Reggie: »Was?«
»Sie sind sich ziemlich sicher, dass sie es ist«, sagte Lorraine mit ruhiger, sachlicher Stimme. »Anscheinend ist sie in den letzten zwei Jahren dort immer wieder in einem Obdachlosenasyl gewesen.«
»Aber wie kann … Woher wissen sie das ?«
»Sie hat es ihnen gesagt. Ihr fehlt die rechte Hand. Schließlich hat die Polizei Fingerabdrücke genommen – sie stimmen überein.«
Reggies Herz machte einen langsamen, kalten Satz hinunter zu ihrem Magen. Sie schloss ihre Augen und sah es dieses Mal so klar: ihre Mutter, draußen auf dem Ricker’s Pond, wie sie sich über das Eis bewegte, eine perfekte Acht fuhr. Dann hielt sie Reggie ihre Hand hin, und sie fuhren zusammen zur Mitte des Teiches, lachend, mit roten Wangen, ihr Atem verursachte kleine Wolken, während das Eis sich unter ihnen bewegte und stöhnte wie ein lebendes Wesen.
»Da ist noch etwas«, sagte Lorraine, ihre Stimme war knapp und geschäftsmäßig wie immer. »Deine Mutter ist im Krankenhaus. Sie hat seit einiger Zeit Husten und hat schließlich zugestimmt, dass ihre Brust geröntgt wurde. Sie vermuteten Lungenentzündung oder Tuberkulose. Sie fanden Krebs. Sie hat vielleicht nicht mehr viel Zeit.«
Jetzt war Reggie sprachlos, versuchte eine irrsinnige Nachricht nach der anderen zu verdauen. Es fühlte sich alles wie ein grausamer Trick an. Deine Mutter ist am Leben. Aber sie liegt im Sterben.
Sie sank auf den Boden hinab, saß in verschüttetem Kaffee.
»Ich will, dass du nach Massachusetts runterfährst und sie holst, Regina. Ich will, dass du sie zurück nach Moniques Wunsch bringst.«
»Ich?«
»Ich fahre heutzutage nicht mehr so viel. Grauer Star.«
»Aber ich …«, stammelte Reggie.
»Ich brauche deine Hilfe dabei«, sagte Lorraine. Dann, als würde sie Reggies Zögern spüren, ergänzte
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