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DAS 5. OPFER

DAS 5. OPFER

Titel: DAS 5. OPFER Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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während ihrer Schwangerschaft, wie sie den größten Teil ihrer Kindheit gefröstelt hatte.
    Lorraine richtete im hinteren Teil von Moniques Wunsch ein Kinderzimmer ein und tat ihr Bestes, Vera auf die Mutterschaft vorzubereiten. Sie kochte ihr Leber, zwang sie, Vitaminpillen zu nehmen, und warf zahllose Packungen mit Zigaretten weg. Lorraine tat all dies, während sie André pflegte, der bald nicht mehr in der Lage war, ohne Hilfe Treppen hoch- und runterzugehen, und anfing, den größten Teil des Tages in seinem Schlafzimmer zu verbringen, gleich gegenüber von Vera, wo er sich angewöhnte, Seifenopern auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher zu gucken. Vera saß an den Nachmittagen bei ihm, zündete sich Zigaretten an und sprang auf, um die Tür abzuschließen, wenn sie Lorraine kommen hörte. Vera rief dann: »Kein Zutritt zur Krankenstube bis zur Besuchszeit! Komm um fünf zurück! Vergiss die Tabletts mit dem Abendessen nicht!«, und Lorraine kochte vor Wut, wenn sie den Zigarettenrauch roch und ihren Vater und ihre Schwester wie Kinder hinter der geschnitzten Holztür kichern hörte.
    Reggie hörte von all dem erst viel später, von ihrer Mutter.
    Sie hörte außerdem davon, wie Lorraine in einem Versuch, Andrés Beharren darauf, dass »das arme Bastardkind« keine große Chance hätte, entgegenzuwirken, sagte, dass Veras ungeborenes Kind ein glückliches Baby sein würde, da es von Mutter und Tante aufgezogen werden würde, und dass das die Art war, wie wilde Elefanten ihre Jungen aufzogen. Vera, die das amüsierte, begann, von Reggies Vater als dem Elefanten zu sprechen. Über die Jahre verwandelte sich dieser Spitzname in Stoßzahn, was der einzige Name war, den Reggie jemals für ihren Vater hatte.
    Reggie wuchs auf mit der Vorstellung von einem Vater, der den Köper eines Mannes und den Kopf eines Elefanten hatte. Und später, als sie, im Alter von acht Jahren, auf ein Bild des Hindugottes Ganesha stieß, riss sie es aus dem Buch und bewahrte es in einem Schuhkarton unter ihrem Bett auf, der auch ihre anderen wertvollen Besitztümer enthielt: den Schädel eines Vogels, einen Penny mit Indianerkopf, zwei Dutzend Krieg-der-Sterne-Tauschkarten, Streichholzbriefchen von diversen Bars, die ihre Mutter besuchte, und eine Anzeige, ausgeschnitten aus einem Magazin, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte, die ihre Mutter zeigte, die einen Tiegel Creme in ihrer perfekt manikürten rechten Hand hielt. Vera trug ein weißes Kleid, das ihre nackten Schultern entblößte und glänzende, makellose Haut zur Schau stellte. Sie lächelte listig, als würde sie einem ein Geheimnis verraten.
    Manchmal nahm Reggie die beiden Bilder heraus und legte sie nebeneinander: Ganesha und die Cold-Cream-Göttin. Ein ungleiches Paar.
    REGGIE BEOBACHTETE, WIE IHRE SCHÖNE Mutter Salz auf die Bar streute, als wäre es eine heilige Handlung. Der Barkeeper brachte ihr ein Ei aus der Küche, und Vera stellte es vorsichtig mit ihren langen, anmutigen Fingern auf den Kopf.
    »Voilà«, sagte sie.
    Der Boxer klatschte, seine dicken Hände schlugen ungeschickt aufeinander, erschütterten Reggies Trommelfell. Das Mädchen mit den knubbeligen Knien drehte sich auf dem Hocker, lächelnd, da sie wusste, dass ihre Mutter ein Wunder vorgeführt hatte. Sie begriff, selbst damals schon, dass ihre Mutter, das Aphrodite-Cold-Cream-Girl, von etwas berührt war, dass größer als sie selbst war, etwas, das ihr die Macht gab, ein Ei auf den Kopf zu stellen, wie einen winzigen, verformten Planeten, es vorsichtig in die Umlaufbahn zu schicken, zusammen mit dem Boxer und Reggie und allem anderen in der schäbigen Bar, bis hinunter zu den schweren Aschenbechern aus Glas, die sie alle sanft, hilflos umkreisten.
    »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie der Doppelgänger von Marlon Brando sein könnten?«, fragte Vera den Boxer.
    »Nein«, sagte er lachend und zeigte seine verfärbten Zähne.
    »Sie sehen genau wie er aus. Als er Terry Malloy in Die Faust im Nacken spielte. Haben Sie den gesehen?«
    »Nein, meine Liebe, kann ich nicht behaupten.«
    »Brando ist ein Gott«, sagte Vera, zündete eine Zigarette an und sah zu, wie der Rauch nach oben stieg.
    Hinter ihnen spielten zwei heruntergekommene Männer Pool an einem Tisch, dessen eines Bein mit einem Telefonbuch unterlegt war. Die Kugeln schlugen heftig gegeneinander, Gestreifte und Einfarbige fochten es untereinander aus. Außer dass sie jeden Schuss ansagten, waren die Männer ruhig, rieben ihre

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