BASTET (Katzendämmerung) (German Edition)
1. Kapitel
»Die Flammende Jenny«
San Francisco, 1906
San Francisco Chronicle vom 21. April 1906:
»BIZARRES DRAMA INMITTEN VON CHAOS UND ZERSTÖRUNG«
Von einem grausigen Anblick berichten mehrere Augenzeugen im Bereich der Waller Street. Obwohl die verheerenden Brände vor allem in den Vierteln 'South of Market', 'Chinatown' und 'North Beach' wüteten, wurden auch viele Häuser westlich der Van Ness Avenue ein Opfer der Flammen. - Am gestrigen Vormittag irrte offenbar ein schwer verletztes Brandopfer durch die Waller- und Haight Street in Richtung Market Street. Nach übereinstimmenden Berichten zufolge handelte es sich um ein Mädchen oder eine junge Frau, die lichterloh brannte. Seltsamerweise unternahm die Unbekannte keinen Versuch, die Flammen zu ersticken. Trotz der Tatsache, dass Haare, Kopf und Schultern der Bedauernswerten von lodernden Flammen umhüllt waren, rannte oder schrie sie nicht. In aufrechter Haltung und mit unglaublich ruhigen Schritten sei die Frau durch die Straßen gegangen. Von den zahlreichen Umstehenden waren nur zwei Männer geistesgegenwärtig genug, um der Brennenden zur Hilfe zu eilen. Ihre Bemühungen waren jedoch vergeblich. Die Hitze der Flammen war so groß, dass die freiwilligen Helfer mit ihren Decken kaum näher als drei Yards an das Opfer herankamen. Und selbst dort erlitten beide noch Verbrennungen an Armen und Händen. Die brennende Frau aber setzte ihren Weg fort. Ein Großteil der umherstehenden Menschen war viel zu entsetzt und zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um der Unglücklichen hinterher zu laufen. Als sie in die Fillmore St. einbog, folgte ihr daher nur eine kleine Gruppe, die vor allem aus Jugendlichen bestand. Und dort – zwischen Fillmore und Haight – verloren sie die Frau aus den Augen. War allein schon die Tatsache, dass sich die Unbekannte trotz ihrer schweren Verbrennungen so lange auf den Beinen hatte halten können, nahezu ein bizarres Wunder, so erscheint ihr plötzliches Verschwinden in einem nicht minder mysteriösen Licht. - Chet Mankell (15), wohnhaft in 412 Pierce St., berichtet: »Drei meiner Freunde und ich sind der brennenden Lady gefolgt, etwa in einem Abstand von 50 Yards. Als wir zur Ecke Fillmore kamen, sahen wir nur noch, wie etwas Feuriges oben in die Haight einbog. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, so schnell zu sein. Mein Freund Bill ist in der Leichtathletik-Schulmannschaft und läuft die 100 Yards in 1.4 Sekunden, und ihm wäre es gewiss nicht gelungen. Und dabei hat die Frau auch noch gebrannt!« - Als die Jungen schließlich die Haight Street erreichten, war die brennende Frau verschwunden. »Als wenn jemand plötzlich 'ne Fackel ausgemacht hätte, mitten in der Nacht«, sagte Mankell. »Aber es war helllichter Tag!« - Die Haight Street war um diese Zeit recht belebt, doch die Angst vor dem herannahenden Feuer lenkte die Bewohner offenbar so stark ab, dass niemand das menschliche Feuer direkt vor ihren Augen bemerkte. Auch nachdem sich einige Polizisten und Feuerwehrmänner an der Suche beteiligten, fand sich kein Hinweis über den Verbleib der brennenden Frau. Obwohl in der Gegend nur wenige tiefe Risse im Straßenboden entstanden sind, glaubt man, die Unbekannte sei in einen bodenlosen Krater gestürzt.
W. Grisswald
San Francisco Chronicle vom 22. April 1906:
»BRENNENDE FRAU IN PACIFIC HEIGHTS«
Anwesen der Blatchfords ein Raub der Flammen
Auch am gestrigen Tag wurden viele Anwohner in Pacific Heights durch den Anblick einer in Flammen stehenden Frau in Angst und Schrecken versetzt. Ähnlich wie schon am Freitag auf der Waller St. lief auch am gestrigen Tag eine brennende Unbekannte durch die Straßen. Diesmal ereignete sich der Vorfall im Bereich Broadway und Webster. Zeugen wollen beobachtet haben, wie die Frau zuvor das Blatchford-Haus, 2112 Broadway, mit einem Gegenstand unter dem Arm verlassen hatte. Das Haus des verstorbenen Textilfabrikanten James William Blatchford, das 1878 von Edward Swain in aufwändigem Stil der französischen Gotik erbaut worden war, hatte – anders als die meisten der benachbarten Gebäude – erhebliche Schäden durch das Erdbeben davongetragen. Ein Seitenturm wurde vollkommen zerstört und der große Tiffany-Wintergarten war gemeinsam mit Teilen der Fassade in den Garten des Anwesens gestürzt. Bis auf eine Köchin hat offenbar niemand der Bewohner das Erdbeben überlebt. Was die Fremde in den nur schwer zugänglichen Räumen des Hauses gesucht haben mag, ist
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