Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
weg. Das Gesicht des Menschen, der seinen Prüfungsbogen kontrollieren musste, würde er gerne sehen. Lagerfeld faltete die Arme hinter seinem Kopf zusammen und betrachtete den Rest der grübelnden Prüflinge an den anderen Tischen. Die armen Schweine taten ihm leid, hatten sie doch im Gegensatz zu ihm gerade richtigen Stress. Tja, hätten die halt besser was Gescheites gelernt. Dann müssten sie nicht hier … Er stutzte. Der Mann am Tisch ganz rechts an der Wand kam ihm seltsam bekannt vor. Er trug gefleckte Tarnkleidung und hatte an seinem Gürtel ein großes Messer in einer Lederscheide hängen. Als er nachdenklich aufblickte und auf seinem Bleistift kaute, entdeckte Lagerfeld eine längliche Narbe am Hals.
*
In der Gerichtsmedizin in Erlangen war Ruhe eingekehrt. Professor Dr. Siebenstädter hatte sich gerade auf den Weg zu seinem Pathologenstammtisch gemacht, wo weder gescherzt noch gefeiert wurde. Emotionaler Überschwang war einem Pathologen beziehungsweise Gerichtsmediziner so fremd wie Fischen das Fahrradfahren. Stattdessen führte man dort tiefschürfende fachliche Gespräche und pflegte den Erfahrungsaustausch. Man musste nur genau hinschauen, dann waren Tote die gesprächigsten Menschen überhaupt. Personen, die durch äußere Gewalteinwirkung zu Tode gekommen waren, hatten verdammt viel zu erzählen.
Heute Abend würde aus aktuellem Anlass das Thema »Gifte« auf der Tagesordnung stehen. Vor allem über die Schädlichkeit des Nikotinkonsums hatte Siebenstädter so einiges beizutragen. Das könnte ein spannender Abend am Stehimbiss »Hühnertod« werden, der äußerst lecker zubereitete Teile von verstorbenem Geflügel in der Nähe des alten E-Werkes servierte. Ein äußerst passender Treffpunkt für Anhänger seines Berufsbilds, wie er zugeben musste. Außerdem war der Name ein idealer Aufhänger, um sich mit anderen begeisterten Zynikern dieser Welt zu unterhalten. Es war immer wieder ein schöner … Sein Handy klingelte.
Siebenstädters Miene verfinsterte sich, als er die Nachricht vernahm. »Ja, ich komme«, knurrte er ärgerlich in das Mikrofon, beendete das Gespräch und pfefferte sein Handy auf den Beifahrersitz.
Ausgerechnet an seinem Stammtischabend brachten die zwei neue Leichen. Noch dazu aus Hof. Das konnte ja nichts Wichtiges sein. In Hof passierte nie etwas von Bedeutung. Dabei war er ja eigentlich selbst schuld an der Nachtarbeit. Früher waren die fränkischen Toten noch zur Hälfte nach Würzburg gebracht worden, aber das hatte er Gott sei Dank beenden können. Ganz Franken war jetzt sein Revier, hier konnte nur einer Leichen aufschneiden – und das war er.
Manchmal widerte ihn sein Beruf wirklich an. So gern er auch Tote sezierte, was ihn nervte, waren diese beschissenen Arbeitszeiten. Allzeit bereit, das war das Motto der Gerichtsmediziner. Er war doch kein Callboy! Aber alles Lamentieren half nichts, der Pathologe wendete den Wagen an Erlangens neu erbautem Einkaufs- und Flanierzentrum Arcaden und fuhr zurück in die Gerichtsmedizin. Seine Kollegen mussten heute wohl auf ihn verzichten.
*
Lagerfeld hatte den Prüfungssaal verlassen und wartete im Vorraum mit einer Zigarette in der Hand. Nach und nach erschienen mehr oder weniger erschöpfte Angler und gesellten sich zu ihm. Schließlich entdeckte er auch den älteren mit den langen Haaren wieder.
»Na, wie war die Prüfung?«, fragte Lagerfeld.
Der Angesprochene blickte ihn belustigt an und meinte: »Hör mal zu, Bruder. Ich wurde nicht geprüft, ich habe geprüft. Ich bin Vorsitzender der Prüfungskommission, falls du das nicht mitbekommen hast.«
Lagerfeld war überrascht. Dieser Rastafari-Typ war Vorsitzender einer Prüfungskommission? Unglaublich, was es alles gab.
»Stefan Wurm«, stellte sich sein Gegenüber vor. »Und wie ist es bei dir gelaufen?«
Lagerfeld winkte ab und schnippte den Stummel seiner Zigarette auf den Bürgersteig. »Glaube nicht, dass ich zur Wissenselite dieses Anglerjahrganges gehöre«, meinte er ohne Bedauern. »Sag mal, wie hast du das eigentlich vorhin gemeint mit der Erpressung vom Rast? Womit soll denn der Edwin jemanden erpresst haben?«
Stefan Wurm konzentrierte sich wieder auf die Spitzen seiner Schuhe. »Ihr in Coburg kriegt wohl überhaupt nichts mit, oder?« Flüsternd fuhr er fort: »Der Rast hat angeblich den neuen Umweltminister mit irgendwas im Sack gehabt. Jedenfalls hat er das in jedem Vorstand rumerzählt, der es hören wollte oder auch nicht. Die meisten haben es
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