Das Alabastergrab
Artikel weg und griff sich die letzte Seite.
Überrascht hielt er inne. Der Artikel von der Rhön- und Saalepost in
Bad Neustadt/Saale war wiederum ein ganzes Stück älter als der zuvor. Es ging
um Renovierungsarbeiten am Kreuzweg eines Klosters. Vandalen hatten anscheinend
eine Station des Wegs so stark zerstört, dass diese wiederaufgebaut werden
musste. Da das Kloster arm war, war es an den Brüdern hängen geblieben, die
Reparatur in Eigenregie durchzuführen. Auf dem Foto sah man einen fleißigen
Pater, der mit einer Maurerkelle in der Hand in die Kamera lächelte, während er
am gekippten steinernen Relief der Kreuzwegstation lehnte und kurz davor war,
eigenhändig den Sockel des Kreuzwegs zu betonieren. Der Pater war eindeutig
Kolonat Schleycher. Und das arme Kloster, erfuhr Haderlein im Artikel, war das
Franziskanerkloster auf dem Kreuzberg in der Rhön.
*
»Also, Herr Schmitt, was wollen Sie denn nun wirklich von mir
wissen? Ich meine, außer meinem Familienstand …«, fügte sie süffisant lächelnd
hinzu.
Sogleich stieg Lagerfeld wieder die Schamesröte ins Gesicht. Ohne
seine Brille war er ja faktisch nackt!
»Äh … also, ich bin heute eigentlich hier, weil ich Auskünfte über
einen Ihrer Angestellten brauche, sein Name ist Hubertus Graetzke. Wie ich
schon erfahren habe, ist er heute nicht zur Arbeit erschienen?«, fragte
Lagerfeld, jetzt darauf bedacht, kompetent, sachlich und hochdeutsch zu wirken.
»Ja, das stimmt. Auch zu Hause oder auf seinem Handy konnten wir ihn
nicht erreichen«, entgegnete Frau von Heesen. »Und das ist in der Tat
merkwürdig. Wissen Sie, ich kenne Herrn Graetzke schon, seit ich die Leitung
der Revisionsabteilung übernommen habe. Ich kam mit ihm immer sehr gut zurecht,
auch wenn es zu Beginn Probleme zwischen ihm und mir gab.«
Lagerfeld schaute überrascht von seinen Notizen auf. »Probleme? Was
denn für Probleme?«
»Nun, es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Außerdem ist es
schon lange her und eigentlich auch schon längst vergessen.«
»Erzählen Sie es bitte trotzdem, man weiß ja nie«, ermunterte er
sie.
»Na gut«, entschloss sie sich. »Eigentlich war er es, der meinen
Posten hier bekommen sollte. Dementsprechend war er wohl sehr enttäuscht, als
er mitbekam, dass jemand anderes ihm vorgezogen wurde. Insbesondere dass fortan
eine Frau sein Chef sein sollte, schien ihn mehr als zu irritieren.«
»Ich weiß, Frauen machen ihm zu viele Geräusche …«, entfuhr es
Lagerfeld.
»Wie bitte?«
»Äh … gar nichts. Und hatten Sie ansonsten Schwierigkeiten mit ihm?«
»Überhaupt nicht«, winkte sie ab, »Hubertus Graetzke ist ein sehr in
sich gekehrter Mensch und nimmt auch nicht sonderlich am Sozialleben der HUK -Coburg teil, wenn Sie verstehen, was
ich meine. Aber über seine Arbeit kann man sich als Vorgesetzte wirklich nicht
beklagen. Warum fragen Sie das eigentlich alles? Ist Herrn Graetzke etwas
zugestoßen?« Ute von Heesen wirkte ernsthaft besorgt.
»Nein, nein, leider … äh, ich meine natürlich, nicht dass wir
wüssten, nein. Wir hätten ihm einfach nur gerne ein paar Fragen gestellt. Aber
das wär’s jetzt auch eigentlich«, seufzte er und erhob sich aus seinem Sessel.
Als er Ute von Heesen seine Karte reichte, blickte er ihr wieder in die
wundervollen Augen. Mein Gott, was für eine Schönheit, schmachtete er. »Und
sollten Sie noch Fragen, Wünsche oder Anträge haben, wenden Sie sich
vertrauensvoll an mich, ich bin für alles … zu haben.« Er hatte die ganze
Bedeutungskraft seiner Stimme in das »zu haben« hineingelegt.
»Natürlich, sehr gern, Herr Schmitt«, lächelte sie ihn an. »Und wenn
Sie irgendetwas über Herrn Graetzke herausfinden, lassen Sie es mich bitte
wissen. Ich mache mir immer Sorgen, wenn ich einen Kollegen nicht erreichen
kann.« Ihre Stirn legte sich in kaum wahrnehmbare Falten. »Meine Vorzimmerdame
wird Ihnen die Wohnungsanschrift von Herrn Graetzke gerne mitteilen.«
Lagerfeld war eigentlich schon draußen, aber er konnte es sich nicht
verkneifen. Er musste es jetzt einfach wissen, ansonsten würde er nächtelang
unter Schlaflosigkeit leiden. Also wandte er sich noch einmal um und fragte so
unschuldig wie möglich: »Frau von Heesen? Ich bräuchte dann noch Ihr
Geburtsdatum. Sie wissen schon, für die Akten.« Trotz aller gespielten
Gleichmütigkeit merkte er, wie er erneut rot anlief.
Die Abteilungsleiterin senkte den Kopf, verschränkte die Arme und
blickte zu Boden. Ihre Schultern zuckten.
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