Das Albtraumreich des Edward Moon
saßen uns eine Weile schweigend gegenüber.
»Weshalb sind Sie gekommen?«, fragte ich
schließlich.
»Ich muss Sie etwas fragen.«
»Was immer Sie wollen«, sagte ich, vielleicht eine
Spur übereifrig.
»Ich muss wissen, warum.«
Zu meiner – und ich nehme an, zu
unserer
–
Überraschung wurden seine Besuche fester Bestandteil meines Lebens.
Wir zogen beide einen beachtlichen Vorteil aus
diesen Begegnungen, denke ich. Ich gab mir größte Mühe, ihm einen Einblick in
all das zu verschaffen, was ich hatte erreichen wollen (obwohl es mir
selbstredend nie gelungen ist, ihn zu bekehren), und er brachte mir Neuigkeiten
von der Außenwelt, über alles, was geschah, nachdem ich in Ketten abgeführt
worden war. Gemeinsam waren wir in der Lage, eine vollständige Übersicht der
Ereignisse zusammenzustellen, eine lückenlose Schilderung all dessen, was in
den Monaten vorgefallen war, die zur Schlacht an der
King-William-Street-Station geführt hatten.
Der Leichnam des Schlafwandlers wurde noch nicht
gefunden. Eine innere Gewissheit, wohl seinem Kummer entsprungen, sagte Edward,
dass der Riese immer noch am Leben ist, dass er irgendwo im Untergrund schläft
und wie Arthur auf die Stunde der Not dieser Stadt wartet. Es mag Sie
interessieren, dass Moon, als ich ihn zum letzten Mal sah, auf eine verrückte
Idee gekommen war, was die Person seines Freundes betraf. Er zeigte mir eine
Postkarte, auf der die beiden riesigen Steinstatuen abgebildet waren, die das
Londoner Rathaus bewachen – Gog und Magog, wie Cribb ganz richtig bemerkt
hatte –, und schwor Stein und Bein, dass er in ihren Gesichtszügen etwas
von jenen des Schlafwandlers erkannte. Ich persönlich konnte keinerlei
Ähnlichkeiten entdecken.
Moon gab den Tod seines Gefährten öffentlich
bekannt, und es fand sogar ein Begräbnis statt, wobei es nur spärlich besucht
war und man mich nicht dazu eingeladen hatte. Der Inspektor war dort, zusammen
mit Charlotte, Mrs Grossmith, ein paar Gönnern und den üblichen Müßiggängern.
Man verwendete einen leeren Sarg (angefertigt nach Größenangaben, die denen des
Hünen entsprachen), und Moon ließ ihn beisetzen – ironischerweise auf dem
Friedhof von Highgate, nur wenige Schritte von einem anderen, berühmteren,
jedoch ebenso leeren Grab entfernt.
Edward brachte mir aber auch beglückendere
Nachrichten. Die Kirche des Sommerkönigreichs lebt weiter; das Licht der
Pantisokratie ist noch nicht erloschen: Vor einiger Zeit überquerte eine kleine
Gruppe von Gläubigen – sechs Männer, sechs Frauen – den Atlantik mit
dem Vorhaben, an den Ufern des Susquehanna eine Gemeinde zu gründen, so wie es
der alte Mann geplant hatte. Sie haben meinen Segen und meine Gebete –
oder hätten beides, wenn sie darum ersucht hätten. Vielleicht konnten Sie in
der Tagespresse lesen, dass diese Pilger nichts mehr von mir und meinen
Methoden wissen wollen – natürlich durchaus zu begreifen, unter diesen
Umständen. Doch ich würde lügen, wenn ich sagte, dass eine solche Treulosigkeit
nicht schmerzt.
Edward teilt meine Gefühle nicht. Er hält das
Unternehmen für eine Torheit, die nur verhängnisvoll enden kann. Und er hat
gute persönliche Gründe für sein Missfallen – denn Sie müssen wissen, es
war seine eigene Schwester, meine liebe Charlotte, einstmals Love, die die
ganze Sache geplant und geregelt hat.
Edward glaubte immer, dass die Bekehrung seiner
Schwester nur eine vorübergehende Entgleisung gewesen wäre – ein Irrweg,
auf den sie nur die außergewöhnlich überzeugende Anwerbungsmethode von
Love,
Love, Love und Love
gebracht hätte. Doch wie sich schließlich zeigen
sollte, ist ihre Wandlung etwas Dauerhaftes und nicht Umkehrbares. Sie ist und
bleibt meine unerschütterlichste Jüngerin. Doch ist es nicht kurios, dass
häufig aus den zähesten Skeptikern und bösesten Spöttern die größten Eiferer
werden?
Aber Moon hat noch weitere Gründe, um über die
Abtrünnigkeit seiner Schwester betrübt zu sein. Sie hat die arme Mrs Grossmith
mitgenommen! Ihres Bräutigams beraubt und auf hässliche Art und Weise mit
seinem schändlichen Doppelspiel konfrontiert, beschloss Moons Haushälterin,
sich auf Gedeih und Verderb mit den neuen Pantisokraten zusammenzutun. Ich
frage mich, von welchem Nutzen sie ihnen sein kann: Sie ist weit über das
gebärfähige Alter hinaus und weder als Dichterin noch als Farmersfrau zu gebrauchen.
Vielleicht kann sie die Küche organisieren oder sich mit
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