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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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einen sicheren Platz. Ungestört, mehr oder
weniger. Damit wir nähere Bekanntschaft schließen können.« Sie tat ihr Bestes,
die Kokette zu spielen, und bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln. Sie war
sichtlich müde, vermutlich etwas betrunken, und der beschönigende Vorwand war
allzu durchsichtig; aber Honeyman, seine Glut nunmehr entfacht, sah nur das
wollüstige Weibchen, die Buhlerin – ein feenhaftes Geschöpf, das nur
darauf wartete, erobert zu werden. Das Mädchen setzte sich in Bewegung, und er
folgte ihm, ohne zu denken. Es dauerte nicht lange, und seine Schenkel waren
schweißfeucht und klebrig und rieben beim Gehen unerquicklich aneinander. Er
verzog das Gesicht – halb Vorfreude, halb Unbehagen.
    »Wie weit noch?«
    »Nicht weit.«
    Eine Zeit lang hasteten sie schweigend dahin, dann
blieb das Mädchen stehen und zeigte nach oben. »Dort.«
    Honeyman hielt abrupt inne, als das gewaltige
Gebäude aus dem Dunkel vor ihm aufragte – ein in diesem modernen Zeitalter
völlig deplaziert anmutendes Bauwerk, haarsträubend in seinem Anachronismus.
Umkränzt von der Nacht, erhellt nur vom bleichen Licht des Mondes, wirkte es
wie ein urzeitliches Monument, ein Steinblock von Stonehenge, herausgerissen
aus der Ebene von Salisbury und unverändert in die Tiefen der Stadt gerammt.
    »Was ist das?«, flüsterte er.
    Sie spuckte auf den Bürgersteig, und Honeyman
musste hart an sich halten, um seinen Abscheu über ihr vulgäres Benehmen zu
verbergen.
    »Mach dir darüber bloß keine Gedanken. Kommst du
mit rauf?«
    »Da hinauf? Warum?«
    »Der beste Platz dafür.« Ihr Kunde schien nicht
sonderlich überzeugt, und sie fügte hinzu: »Es wird dir gefallen. Es ist
aufregender so«, schmeichelte sie. »Spannender. Irgendwie gefährlicher!«
    Er gab sich geschlagen. »Nun, so gehen wir denn«,
sagte er.
    Als sie ganz nahe herangekommen waren, bemerkte
Honeyman, dass der Turm vollständig aus einem glatten, nackten Metall zu
bestehen schien, das unheilvoll im Mondlicht glänzte. Die Dirne holte einen
Schlüssel hervor, sperrte auf, und sie traten beide ein; Honeyman folgte ihr
argwöhnisch, nachdem er das Tor sorgfältig hinter sich verriegelt hatte.
    In dem schwachen Lichtschein, der von der Straße
irgendwo in den Turm drang, konnte er eine Wendeltreppe ausmachen, die sich in
pechschwarze Finsternis emporwand. Die junge Frau hatte bereits die ersten
Stufen in Angriff genommen, und Honeyman konnte ihre Bewegungen über sich
hören. Nervös, jedoch angetrieben von der Verheißung naher Freuden, begann er
emporzusteigen; die Geländerstange fühlte sich kalt unter seiner Hand an,
während er sich unsicher durch die Düsternis die Treppe hochtastete.
    Seine Führerin dachte nicht daran, ihren Aufstieg
zu verlangsamen, und über kurz oder lang kam Honeyman außer Atem und keuchte.
Doch es ging weiter – stundenlang, wie es ihm erschien. Und während er
tiefer und immer tiefer in die Dunkelheit gezogen wurde, fing er zur Beruhigung
an, ein Stück Text aus seiner Rolle aufzusagen.
    »Unmäßig weint sie über Tybalts Tod,
Und darum sprach ich wenig noch von Liebe:
Im Haus der Tränen lächelt Venus nicht.
Nun hält’s ihr Vater, würd’ger Herr, gefährlich,
Dass sie dem Grame soviel Herrschaft gibt,
Und treibt in weiser Vorsicht auf die Heirat,
Um ihrer Tränen Ströme zu vertrocknen.«
    Die Worte hallten durch den Turm, und plötzlich
fühlte Honeyman sich äußerst unbehaglich und verstummte. Er hatte das Gefühl,
am Rande seines Gesichtsfelds Bewegungen wahrzunehmen und verspürte die
unsinnige Gewissheit, dass die Dirne und er selbst nicht die einzigen
Anwesenden hier waren. Er unterdrückte ein Schaudern und stapfte weiter.
    Das Ende der Treppe war erreicht, und Honeyman
betrat einen riesigen Raum, der geradezu strotzte von etwas, das man wohl zu
allerletzt hier erwartet hätte: von verschwenderischem, überbordendem Luxus.
Ein Himmelbett stand ausladend darin, der Tisch daneben bog sich unter einem
phantastischen Festmahl, eine Champagnerflasche wartete darauf, geöffnet zu
werden, und die Luft im Raum duftete süß, wie durchzogen von Räucherwerk und
Parfum. Das einzige Fenster bestand aus zarten klaren Glasscheiben,
zusammengehalten von schmalen Streifen aus Blei und zu geometrischen Mustern
angeordnet: ein Fenster, das wohl eher einer Kirche oder Kapelle – ja
selbst irgendeiner vergessenen Kathedrale – angestanden hätte, als diesem
bedrohlich wirkenden Turm, diesem riesigen Finger des Schicksals,

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