Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
angekündigt worden war. Bryan konnte nur hoffen, dass Rehmann zu dem Zeitpunkt zu Hause in ihrer Dienstwohnung sein würde. Wenn er die Übersichtskarte an der Einfahrt richtig studiert hatte, befand diese Wohnung sich im linken Flügel der Villa.
Es hatte längst angefangen zu dämmern. Die Alleebäume vor dem Sanatorium wiegten sich im Abendwind, als im matten Schein der schmiedeeisernen Lampe am Haupteingang Kröners Gestalt auftauchte. In der offenen Tür scherzte er ein wenig mit einer Frau, dann nahm er einen gebückten Mann am Arm und schlenderte mit ihm plaudernd in aller Seelenruhe die Einfahrt hinunter. Bryan verließ das Lokal und versteckte sich hinter einer der Ulmen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und die Nasenflügel fingen an zu beben.
Die beiden Männer gingen dicht an ihm vorbei. Die Fürsorge, mit der Kröner den älteren Mann behandelte, war fast rührend. Ob er ein Verwandter des Pockennarbigen war? Womöglich sein Vater? Seine zierliche Gestalt, sein runzeliges Gesicht und der fast weiße Vollbart erschwerten eine genaue Altersbestimmung. Dennoch entschied Bryan, dass er doch nicht alt genug war, um Kröners Vater sein zu können.
Der alte Mann sagte nichts. Er wirkte krank und müde. Bryan meinte spüren zu können, dass der Mann dabei war, den Mut zu verlieren. Dieser Mensch war also der Grund für Kröners Besuch – und jetzt sollte er wohl das Wochenende zu Hause bei Kröner und dessen Familie verbringen.
Doch statt in Kröners Auto einzusteigen, spazierten die beidenzu Bryans Überraschung in Richtung Basler Landstraße und Tiengener Straße.
An der Straßenbahnhaltestelle blieben sie stehen und sprachen leise miteinander. Einige Jugendliche warteten neben den beiden Männern und alberten so ausgelassen herum, dass ihr Gelächter von den Fassaden widerhallte. Bryan überquerte die Straße und stellte sich im Schutz der Teenager ebenfalls an die Haltestelle. Keine zwei Meter trennten ihn nun von Kröner und dem alten Mann. Die beiden unterhielten sich immer noch leise, wobei der Alte heiser klang und sich nach jedem zweiten Wort räusperte. Wieder einmal bedauerte Bryan es zutiefst, kein Deutsch zu verstehen.
Dann kam die Straßenbahn.
Der alte Mann stieg ein, während Kröner in die Richtung verschwand, aus der sie soeben gekommen waren. Bryan sah dem Pockennarbigen einen Augenblick verunsichert hinterher, dann stieg auch er in die Straßenbahn, wo der alte Mann sich in aller Ruhe nach einem freien Platz umsah. Am anderen Ende des Wagens, neben einem dunkelhäutigen jungen Mann, erspähte der Alte offenbar eine Sitzgelegenheit.
Demonstrativ baute sich der alte Mann neben dem freien Platz auf, ohne Anstalten zu machen, sich zu setzen. Hasserfüllt starrte er den jungen Mann an, der zu ihm aufsah und zunächst ohne eine Miene zu verziehen versuchte, seinem Blick standzuhalten. Doch noch bevor die Straßenbahn ihre nächste Haltestelle erreichte, sprang der junge Mann plötzlich auf, drückte sich, ohne den Alten zu berühren, an diesem vorbei und marschierte zur hintersten Ausstiegstür, wo er heftig atmend stehen blieb.
Der Alte ließ sich schwerfällig auf dem Doppelsitz nieder und räusperte sich einige Male. Dann sah er aus dem Fenster.
Nach längerer Fahrt mit einem Mal Umsteigen stieg der Alte in der Stadtmitte aus. Gemächlich schlenderte er an den erleuchteten Schaufenstern vorbei.
Nachdem er sich eine Weile das Angebot eines Konditors angesehen hatte, betrat er das Geschäft. Bryan bekam dadurch eine kurze Pause, in der er nüchtern überlegen konnte, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. War es besser, zu Kröners Haus zurückzukehren und dort die Beobachtung wieder aufzunehmen, oder sollte er lieber weiter den alten Mann beschatten? Er sah auf die Uhr. In einer Dreiviertelstunde würde sich Keith Welles von seinem Besuch in Haguenau zurückmelden. Zu Fuß waren es von hier bis zum Hotel höchstens zehn Minuten.
Als der Alte das Geschäft mit einem zufriedenen Lächeln verließ, heftete sich Bryan an dessen Fersen. Am Holzmarkt blieb der Alte stehen und unterhielt sich kurz mit anderen Passanten. Schließlich bog er in eine Seitenstraße des eleganten Platzes ein, die Luisenstraße, und verschwand in einem schönen, wenn auch leicht vernachlässigten Gebäude.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis im zweiten Stock endlich Licht anging. Eine ältere Frau erschien an den Fenstern und zog die Vorhänge zu, aufgrund der großen Topfpflanzen auf den Fensterbänken ein
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