Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
die Baumwipfel verschwanden hinter der Plane und dem verschwitzten, zufriedenen Gesicht des Soldaten. Der hatte die Plane endlich zu fassen bekommen und zwängte sich nun zwischen zwei Kranke. Den Zipfel der Persenning ließ er nicht mehr los, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
Wie zwei Gewichte pendelten die Stiefel des Kurzbeinigen schräg über Bryans Schienbeinen. Die Ladefläche neigte sich nach hinten. Sie fuhren also wieder bergauf. Mal schwankte das schwere Fahrzeug über Schotterstraßen. Mal polterte es, als führen sie über blanken Fels.
Sie wurden offenbar bis ganz nach oben gebracht. Hinauf in die Einöde.
Der Lastwagen fuhr noch zirka eine Stunde, dann hielt er an.
Mehrere in Weiß gekleidete Männer standen bereit, um sie in Empfang zu nehmen. Noch ehe sie sich voneinander verabschieden konnten, wurde James’ Trage über die Wagenkante gezogen. Die zwei Sanitäter, die sich Bryans Trage annahmen, rutschten auf dem glatten Boden aus und hätten ihn fast fallen gelassen. Eine dunkle freie Fläche öffnete sich vor ihnen, bedeckt mit Kies und umgeben von einem Streifen abgestorbener Nädelbäume.
Im Hintergrund erhoben sich dichte Gruppen schneebedeckter Fichten, die vor starkem Wind Schutz boten. Das Tal unter ihnen verschwand in einem Dunst eisiger Schneekristalle. Kein Lichtschimmer zeugte von Leben dort unten im Gelobten Land. Bryan vermutete, dass Freiburg irgendwo südlich von ihnen lag.
Sie waren wohl über Umwege hierher gefahren.
Zum Teil versteckte sich der Appellplatz hinter einer dichten Hecke. Die benommenen Männer wurden um die Tragen herum gescheucht. Teilnahmslos trotteten sie hinter dem Soldaten her, der ihnen die Befehle erteilte. Ein weiterer Lastwagen kam in Sicht, die Ladeklappe stand offen, die Ladefläche war bereits leer. Alle, die mit diesem Wagen angekommen waren, hatten sich etwas weiter vorn auf dem Platz aufgestellt – dort, wo mehrere helle, dreistöckige Gebäude zu sehen waren. Aus den Fenstern fiel gedämpftes gelbes Licht auf den Appellplatz. Als Bryan das Rote Kreuz auf den flachen, schwach geneigtenDächern sah, hielt er die Luft an. Aber trotz der vielen Sandsäcke, die in regelmäßigen Abständen vor den Mauern aufgetürmt waren, trotz der vergitterten Fenster im ersten und zweiten Stock und trotz etlicher Wachen mit Hunden wirkte die Anlage tatsächlich wie ein ganz normales Krankenhaus. Äußerlich übertrafen die Kästen in jeder Hinsicht die hastig zusammengeschusterten Notlazarette, in denen die Verletzten der Royal Air Force immer öfter unterkommen mussten. Aber lass dich nicht täuschen, dachte Bryan, als er Schritt für Schritt näher zu den Gebäuden gebracht wurde.
Allmählich versammelten sich die Patienten an einem Ende des Hofs. Zirka sechzig bis siebzig Männer warteten dort, als die Tragen im Eisregen an ihnen vorbeigeschafft wurden. Ein Stück weiter vorn bemühte sich der hintere der beiden Krankenträger, James’ Arm, der im Verlauf des holprigen Transports heruntergefallen war, wieder auf die Trage zu schieben. Zwei Finger signalisierten Bryan diskret und voller Todesverachtung das Victory-Zeichen.
Von dort, wo sie nun Aufstellung genommen hatten, waren mehrere gelbe Gebäude zu sehen. Während zwei davon ihr Fundament solide in den Fels gekeilt hatten, lagen die übrigen über das von Bäumen gesäumte Plateau verstreut. Etliche Pfosten ragten über wild wachsende, wuchernde Stechpalmen auf. Sie gehörten zum Zaun zwischen den Felswänden. Weiter entfernt dominierte Stacheldrahtzaun das Gelände und blinkte im Schein der wenigen Laternen eiskalt. Am Tor stand ein schwarzer Wagen mit Hakenkreuz auf der Fahrertür und Standarten auf den Kotflügeln. Im Lichtkegel seiner Scheinwerfer diskutierte eine kleine Gruppe von Offizieren. Ein Offizier im Kittel löste sich aus der Gruppe und winkte Wachen vom nächstgelegenen Gebäude heran. Nachdem er ihnen Befehle erteilt hatte, packten sie ihre Gewehre und rannten mit flatternden Mänteln und geschulterten Waffen die knapp hundert Meter zu ihnen hinüber und gaben die Kommandos weiter.
Diesmal machten die Tragen den Anfang. Einige der stummen apathischen Gestalten blieben einfach stehen, bis die Soldaten sie mit drohenden Zurufen weitertrieben. Nur das Knirschen Hunderter Füße auf der dünnen Schneedecke und das ferne Brummen der Lastwagen waren zu hören, dazu das Schnaufen der Krankenträger. Erst nachdem sie den ersten Gebäudeblock passiert hatten, zeigte sich, dass er abseits
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