Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
auch er nach den langen Dienstperioden von seinen Lieben empfangen. Voller Wehmut hoffte er, das noch einmal erleben zu dürfen.
Da öffnete sich in dem Holzbau hinter ihm eine Tür. Zwei ältereMänner in Zivil blieben in der Öffnung stehen, sie gaben sich gegenseitig Feuer. Ohne die Tür hinter sich zu schließen, gingen sie langsam auf die Lokomotive zu.
Kurz darauf strömten Soldaten aus dem ersten Wagen – müde, gebückte Männer, die nur vom Druck der ständig Nachrückenden vorwärtsgeschoben wurden. Der Mann auf dem Bahnsteig nahm den ersten Mann am Arm und führte ihn an Bryan vorbei den Zug entlang. Eine endlose Kette von Männern trottete willenlos hinter ihnen her, eskortiert von bewaffneten Soldaten.
Auch bei ihnen handelte es sich offenbar um S S-Offiziere aus allen Einheiten. Bryan konnte sie kaum unterscheiden. Deutsche Elitesoldaten, die Helden der Nazis. Beim Anblick all dieser Kragenabzeichen, Totenköpfe, Reithosen, steifen Schirmmützen fröstelte es ihn umso mehr. Das also war der Feind, den zu hassen und zu bekämpfen er gelernt hatte.
Der Strom apathischer Soldaten und schwankender Tragen setzte sich in Bewegung, in der Ferne schimmerte ein Streifen bleichen Lichts. Ein weiterer Lastwagen war rückwärts herangefahren.
Bryan hatte ihn nicht kommen gehört, weil die vielen Stiefel auf dem trockenen Schnee so laut knirschten. Der letzte Mann in der Kolonne rief der Eskorte etwas zu und deutete auf Bryan und die zweite Trage, worauf auch diese beiden aufgenommen und hinter den anderen hergetragen wurden.
Am Ende des Zugs wurden die Tragen kurz abgesetzt. Den Lastwagen zu beladen dauerte eine Weile.
Ein Eisenbahnarbeiter bewegte sich über die Schienen und klopfte mit einer langen Stange gegen die Weichen. Einer der Soldaten drohte ihm mit erhobenem Gewehr, sodass der Arbeiter die Stange in den Schnee fallen ließ und davonrannte, bis er hinter einem großen Schild verschwunden war. »Freiburg im Breisgau« stand gut lesbar darauf.
Die Offiziere schwiegen die ganze Zeit. Die gesamte Aktionverlief äußerst kontrolliert. Bryan hatte daher keine Chance, sich umzusehen, um herauszufinden, ob es James war, der auf der Trage zwei Meter von ihm entfernt lag.
Es musste schon weit nach Mittag sein. Die Sonne würde bald untergehen. Die Straße hinter dem Gebäude vor ihnen war menschenleer, bis auf die S S-Soldaten , die den Vorplatz des Güterbahnhofs bewachten.
Das also war vorläufig ihr Ziel. Freiburg, die Stadt ganz im Südwesten des Deutschen Reiches, vergleichsweise wenige Kilometer von der Schweizer Grenze und einem Leben in Freiheit entfernt.
Oben auf der Ladefläche saßen die Patienten in zwei Reihen auf den Bänken des Lastwagens. Zwischen ihnen lagen schräg nebeneinander mehrere Tragen quer auf dem Boden, so dicht, dass die Enden bis unter die Bänke und Füße der Sitzenden reichten. Bryan hatte Glück gehabt, er lag unter einem Soldaten mit kurzen Beinen, dessen Stiefel nicht allzu schwer auf Bryans steif gefrorenen Schienbeinen lasteten.
Als die letzte Trage aufgeladen war, sprangen die beiden begleitenden Soldaten auf die Ladefläche und rollten die Plane herunter. Unterdessen schlossen die Männer der Eskorte die Wagenklappe.
Plötzlich war es dunkel, sodass Bryan zunächst gar nichts mehr sehen konnte. Die Gestalt neben ihm lag ganz still. Zu hören waren nur die unregelmäßigen und tiefen Atemzüge von vierzig Männern und von da und dort leises Gemurmel. Die beiden Wächter hatten sich nebeneinander ganz außen auf die Bank gezwängt und unterhielten sich gedämpft.
Da merkte Bryan, wie sich die Gestalt neben ihm bewegte. Sie stieß ihn sanft in die Seite, dann legte sich ihre Hand auf seinen Brustkorb.
Bryan ergriff sie und erwiderte vorsichtig den Druck.
Nach und nach bekamen die Silhouetten Gesichter. Bryan wurde klar, dass die Männer dieses Krankentransports vieles verband, dass sie aber vor allem eines gemeinsam hatten: Sie waren geistesgestört.
Und diesen Nenner hatten Bryan und James jetzt mit ihnen zu teilen.
Mit dem Blick deutete James auf einzelne Männer.
Die meisten saßen ganz still, nur die Bewegung des Wagens ließ sie hin- und herschwanken. Manche wirkten äußerst angespannt. Andere fixierten einen imaginären Punkt, verdrehten die Unterarme oder schaukelten kaum merklich vor und zurück und spreizten dabei die Finger oder ballten sie zu Fäusten.
James verdrehte die Augen und deutete auf seinen geöffneten Mund. »Die sind mit
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