Das alte Königreich 01 - Sabriel
Scouts, denen man die Anstrengung des Tages ansah und auch, dass sie der Nähe des Sarkophags schon länger ausgesetzt gewesen waren. Sabriel blickte die Schülerinnen an. Ihre Gesichter waren freundlich und offen; nur ein Hauch von Furcht übertönte ihre nicht zu übersehende Aufregung angesichts des Unbekannten. Zwei von Sabriels besten Schulfreundinnen, die bereits ihren Abschluss gemacht hatten, Sulyn und Ellimere, gehörten zu den Anwesenden, doch Sabriel fühlte sich ihnen seltsam fern. Wahrscheinlich sieht man es mir auch an, dachte sie, als sie den Respekt und das Staunen in den Augen der Freundinnen erkannte. Selbst ihre Charterzeichen auf der Stirn wirkten wie kunstvolle Schminke, obwohl sie echt waren. Es war unfair, sie dieser gefährlichen Situation auszusetzen.
Sabriel öffnete den Mund, um etwas zu sagen. In diesem Moment verstummte die Schießerei abrupt, fast wie auf Befehl. In der Stille kicherte nervös ein Mädchen. Sabriel spürte plötzlich zahllose Tode auf einmal, und eine vertraute Furcht sandte Schauder über ihren Rücken. Kerrigor! Er kam näher und näher; nur noch wenige Augenblicke und er würde hier sein. Seine Macht war es, welche die Gewehre zum Verstummen gebracht hatte. Schwach konnte Sabriel Stimmengewirr von draußen hören, sogar Schreie. Die Soldaten würden jetzt mit älteren Waffen kämpfen.
»Schnell!«, rief sie und ging zum Sarkophag. »Wir müssen einen Ring um den Sarkophag schließen, indem einer den anderen bei der Hand nimmt. Magistrix, wenn Sie die Einteilung übernähmen – Leutnant, platzieren Sie Ihre Männer bitte zwischen die Mädchen…«
An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wären diese Worte Anlass für Belustigung und verlegenes Gekicher gewesen. Hier aber, angesichts der Toten, die sich um das Gebäude drängten, und des Furcht erregenden Sarkophags in der Mitte, war es bloß eine Anweisung. Scouts traten an ihre Plätze, und die jungen Frauen griffen fest nach den Händen der Männer. In wenigen Sekunden war der Sarkophag eingekreist.
Da sie nun durch Berührung verbunden waren, brauchte Sabriel nicht mehr laut zu reden. Sie konnte jeden im Kreis fühlen. Touchstone zu ihrer Rechten verströmte eine vertraute und kraftvolle Wärme. Miss Greenwood zu ihrer Linken hatte zwar nicht so große Kraft, war aber durchaus geschickt. So ging es weiter rund um den Ring.
Langsam ließ Sabriel in ihrem Bewusstsein die Charterzeichen des Öffnens entstehen. Die Zeichen wuchsen. Macht floss in dem Kreis rundum und gewann an Kraft, bis sie sich wie ein trichterförmiger Wirbel nach innen richtete. Goldenes Licht begann um den Sarkophag zu strömen. Die sichtbaren Strahlen drehten sich mit zunehmender Geschwindigkeit im Uhrzeigersinn.
Sabriel sorgte dafür, dass die Macht der Magie weiterhin zur Mitte floss, und nützte alle Kraft, die die Chartermagier aufzubringen im Stande waren. Soldaten und Schulmädchen wankten; manche fielen auf die Knie, doch unerschütterlich hielten sie sich an den Händen fest, und der Kreis blieb ungebrochen.
Langsam begann der Sarkophag sich mit einem grässlichen Kreischen wie von gewaltigen, ungeschmierten Angeln auf dem Podest zu drehen. Dampf drang unter seinem Deckel hervor, doch das goldene Licht trocknete ihn sofort. Weiterhin kreischend drehte der Sarkophag sich immer schneller, bis er nur noch verschwommene Bronze, weißer Dampf und strahlend gelbes Licht war. Plötzlich, mit einem durchdringenden Schrei, hielt er an, der Deckel löste sich, um wie von gewaltiger Kraft bewegt in Richtung der Chartermagier geschleudert zu werden. Er prallte jedoch gut dreißig Schritt entfernt donnernd zu Boden.
Doch auch die Chartermagie geriet ins Bröckeln – und schließlich brach der Ring, als nur noch die Hälfte der Magier sich aufrecht halten konnte.
Schwankend, doch Touchstone und die Magistrix noch immer fest an den Händen haltend, taumelte Sabriel mit den beiden zum Sarkophag und blickte hinein.
»Du meine Güte«, stieß Miss Greenwood mit einem Seitenblick auf Touchstone hervor, »er sieht genauso aus wie Sie!«
Ehe Touchstone antworten konnte, klirrte draußen auf dem Korridor Stahl, und das Gebrüll wurde lauter. Die Scouts, die noch aufrecht standen, zogen ihre Säbel und eilten zum Ausgang – doch ehe sie die Tür erreichen konnten, strömten andere Soldaten in den Raum, blutige, von Panik erfüllte Soldaten, die in die Ecken rannten oder sich zu Boden warfen, schluchzten, schrill lachten oder stumm am ganzen
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