Das alte Königreich 01 - Sabriel
Neunte Tor treiben und für immer ruhen…
Irgendetwas packte ihre Arme und Beine, hob sie aus dem Wasser und stellte sie auf die Füße.
»Deine Zeit ist noch nicht gekommen«, sagte eine Stimme, die in hundert anderen widerhallte.
Sabriel blinzelte, denn um sie herum befanden sich viele leuchtende, menschenähnliche Gestalten, die über dem Wasser schwebten, mehr als sie zählen konnte. Keine Toten Geister, sondern etwas anderes, wie der Geist jenes Mutter-Sendlings, den sie mit dem Papierschiffchen gerufen hatte. Ihre Gestalten waren verschwommen, doch erkennbar, denn alle trugen sie das tiefe Blau mit den Silberschlüsseln. Jeder war ein Abhorsen.
»Geh zurück!«, riefen sie im Chor. »Geh zurück!«
»Ich kann nicht«, schluchzte Sabriel. »Ich bin tot. Mir fehlt die Kraft…«
»Du bist die letzte Abhorsen!«, flüsterten die Stimmen. Die leuchtenden Gestalten schlossen sich um sie. »Du kannst diesen Weg nicht nehmen, ehe es nicht einen anderen gibt. Du hast die Kraft in dir. Lebe, Abhorsen, lebe…«
Plötzlich hatte sie tatsächlich die Kraft, zu kriechen, zu waten, sich gegen die Strömung zu stemmen und behutsam ins Leben zurückzukehren. Ihre leuchtende Begleitung blieb zurück. Einer von ihnen – vielleicht ihr Vater – berührte in dem Augenblick, als sie das Reich der Toten verließ, sanft ihre Hand.
Ein Gesicht schob sich in ihr Blickfeld – es war Touchstone, der auf sie herabschaute. Geräusche wurden in ihren Ohren laut, das ferne Läuten von Glocken, das ihr seltsam schrill erschien, bis ihr bewusst wurde, dass es das Heulen von Rettungswagen war, die aus der Stadt kamen. Sie konnte keine Toten spüren, auch keinerlei starke Magie, weder Freie noch Charter. Doch Kerrigor war ja nicht mehr da, und sie waren fast vierzig Meilen von der Mauer entfernt.
»Lebe, Sabriel, lebe!«, murmelte Touchstone, der ihre eisigen Hände hielt. Tränen trübten seinen Blick, so dass er nicht bemerkt hatte, wie sie ihre Augen aufschlug. Sabriel lächelte; dann verzog sie das Gesicht, als der Schmerz zurückkehrte. Sie blickte sich um und fragte sich, wie lange Touchstone brauchen würde, bis er es merkte.
Da und dort brannte in der Aula wieder elektrisches Licht, und Soldaten trugen Laternen hinaus. Es gab mehr Überlebende, als sie erwartet hatte. Sie leisteten den Verwundeten erste Hilfe, stützten bedrohte Teile der Ziegelwand, fegten sogar Ziegelstaub und Graberde zusammen.
Es gab allerdings auch viele Tote, und Sabriel seufzte, während sie ihre Sinne umherschweifen ließ. Oberst Horyse war draußen auf der Treppe gefallen; Magistrix Greenwood hatte ihr Leben gelassen; ebenso Sabriels unschuldige Schulfreundin Ellimere sowie sechs andere Mädchen und mindestens die Hälfte der Soldaten.
Ihr Blick kehrte in ihre nähere Umgebung zurück, zu den beiden schlafenden Katzen und den zwei Silberringen neben ihr auf dem Boden.
»Sabriel!«
Touchstone hatte es endlich bemerkt. Sabriel wandte sich ihm zu; dann hob sie vorsichtig den Kopf. Sie sah, dass er ihr das Schwert aus dem Leib gezogen hatte, und mehrere ihrer Schulkameradinnen hatten einen Heilzauber gewirkt, der für den Augenblick genügte. Typischerweise hatte Touchstone nichts für sein verletztes Bein unternommen.
»Sabriel!«, rief er noch einmal. »Du lebst!«
»Ja«, murmelte Sabriel ein wenig verwundert. »Ich lebe.«
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