Das Amulett der Pilgerin - Roman
das Morgengrauen.
Es war immer noch stockdunkel, als Viviana den ersten verschlafenen Vogel hörte. Durch die Fensteröffnung drang feuchtkalter Nebel in das Gemach. Es war so weit. Sie stand auf und ging zum Bett hinüber, auf dem Melchor unter dem Laken schlief. Sie fühlte nichts als Verachtung für ihn.
»Melchor!«
Er schreckte hoch, seine Hand suchte nach seinem Schwert, das er aber am Abend neben der Tür abgestellt hatte.
»Melchor, der Tag bricht an, wir müssen gehen.«
Er rieb sich die Augen.
»Du bist schon angekleidet?«, murmelte er.
»Ich war zu aufgeregt, um zu schlafen. Komm, es wird bald hell.«
Er schwang sich aus dem Bett und hob sein Hemd auf. Der Anhänger fiel zu Boden. Stirnrunzelnd griff er nach dem kleinen Lederbeutel. Er blickte zu Viviana, die aber damit beschäftigt war, die Bänder ihres Kleides festzuziehen. Melchor streifte sich Hemd und Anhänger über, tastete suchend unter der Matratze, zog die Liste hervor und steckte sie unter sein Hemd.
Schweigend ging Viviana neben Melchor die menschenleere Straße hinunter zur Themse. Der Nebel, der durch die Straßen quoll, war so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen erkennen konnte. Wenn sie sich einfach zwei Schritte zurückfallen ließ, würde sie von der undurchsichtigen Masse verschluckt werden und Melchor würde sie nicht wiederfinden, dachte Viviana. Vielleicht war es nur das unheimliche, gespenstische Grau, das jedes Geräusch, jedes Licht, die ganze Stadt verschlang, aber plötzlich wurde Viviana von einer bösen Ahnung ergriffen. Es würde nicht gut gehen, die ganze Sache würde nicht gut gehen! Irgendetwas würde falsch laufen! Viviana versuchte, sich zu beruhigen: Ja, es war gefährlich, aber sie war schon viel größere Risiken eingegangen und war bisher immer mit heiler Haut davongekommen. Warum also jetzt plötzlich feige werden? Aber je näher sie dem Flussufer kamen, desto größer wurde Vivianas Unruhe, und sie konnte ihren Fluchtinstinkt kaum noch beherrschen. Abrupt blieb sie stehen. Melchor hatte es nicht bemerkt und war im nächsten Moment schon nicht mehr auszumachen. Vivianas Herz raste. Was, zum Teufel, war nur los mit ihr? Einen kleinen Moment stand sie still, als sie unvermutet hinter sich Schritte hörte. Der Schatten, der sich aus dem Nebel löste, stand plötzlich vor ihr. Es war Julian. Überrascht streckte sie die Hand nach ihm aus.
»Was machst du hier?«
»Dasselbe wollte ich gerade dich fragen.« Seine Stimme klang hart so wie damals in Shaftesbury, als er sie von den Wachen hatte verhaften lassen.
Viviana ließ den Arm sinken und trat einen winzigen Schritt zurück. Obwohl Julian natürlich nicht wissen konnte, was sie vorhatte, kränkte seine offene Feindschaft sie. Verdammt, er durfte jetzt nicht alles zunichtemachen!
»Wo ist Thorn?«
»Julian, höre mir zu, ich muss dir etwas erklären.«
»Du musst mir überhaupt nichts mehr erklären. Ich habe mich lange genug wie ein Narr aufgeführt.«
»Du musst mir zuhören!«
»Wo ist Thorn?«
Viviana hatte keine Zeit, sie konnte Julian nicht alles erklären, und selbst wenn, würde er ihrem Plan vielleicht nicht zustimmen und sie aufhalten wollen.
»Ich kann dir das jetzt nicht sagen. Bitte, Julian, du musst mir vertrauen.«
»Dir vertrauen?«
Sein bitteres Lachen durchfuhr Viviana wie ein Messer. Ehe sie antworten konnte, fuhr er fort: »Mit wem wollt ihr euch treffen, du und Thorn? Ihr wollt doch jemandem das Pergament übergeben, oder etwa nicht?«
»Nein. Das heißt, ja. Das verstehst du nicht, verdammt!«
»Das verstehe ich nicht? Doch, ich verstehe das alles sehr gut. Du hast dich Thorn an den Hals geworfen und benutzt ihn für deine Pläne, diese Verschwörung doch noch durchzubringen. Oder hast du etwa aus Leidenschaft sein Bett geteilt?«
Viviana blinzelte. Natürlich, was sonst sollte er auch von ihr denken? Was hatte sie sich nur gedacht? Sie musste von Sinnen gewesen sein.
»Ja, du hast recht, Julian White, ich bin eine Hure und eine Verräterin.«
Blitzschnell drehte sie sich um und rannte die Gasse hinunter. Die ledernen Sohlen ihrer Schuhe machten kaum Geräusche auf dem Boden, und sie verschwand schnell in einem Hauseingang. Viviana drückte sich in die schützende Nische. Sie hörte Julians Schritte und sein leises Fluchen, aber der dichte Nebel war undurchdringlich. Nach einer kleinen Weile war er nicht mehr zu hören, und Viviana löste sich aus der Nische. Ein Gefühl von Enttäuschung und Bitterkeit hatte sich in
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