Das Amulett der Pilgerin - Roman
ihr breitgemacht. Hatte sie tatsächlich gedacht, sie könnte plötzlich ein rettender Engel werden? Sie war verblendet gewesen, dachte Viviana wütend. Sie hatte geglaubt, Julian sähe mehr in ihr als die anderen Männer. Wie ein kleines Mädchen hatte sie versucht, ihm zu gefallen, seinen Erwartungen zu genügen. Sie war die Närrin gewesen. Viviana wollte nichts mehr, als sofort aus London zu verschwinden. Die Liste war ihr völlig gleichgültig, keine der beiden Parteien konnte etwas damit anfangen. Eilig tappte sie durch das dichte Grau. Sie musste so schnell wie möglich das Haus ihres Bekannten finden, um ihre Ausrüstung zu holen. Unmittelbar vor ihr tauchte plötzlich ein großer, dunkler Schatten auf, fast wäre sie mit ihm zusammengeprallt. Es war Thorn.
»Da bist du ja endlich! Verflucht, wo warst du denn?«
Er packte sie ungehalten am Arm.
»Warum weinst du?«, fragte er etwas milder.
Viviana fuhr sich über die Augen.
»Es ist nichts.«
»Gut, dann lass uns gehen, wir sind spät dran.« Er hatte sie fest am Arm gefasst und schob sie vorwärts. Ehe sie sich noch entscheiden konnte, ob sie einen Nahkampf mit Thorn und eine Flucht wagen sollte, hatten sie das Flussufer erreicht. Viviana hörte das gedämpfte Gluckern des Wassers.
»Ist alles bereit?«, fragte Melchor in das graue Nichts.
»Alles klar«, antwortete eine tiefe Stimme. Als Viviana noch einen Schritt näher trat, konnte sie schemenhaft einen Mann ausmachen, der in einem Boot stand. Er reichte ihr die Hand. Seit Melchor am Abend zuvor zum Hafen gegangen war, hatte Viviana sich überlegt, mit wie vielen zusätzlichen Männern sie würde rechnen müssen. Es schien nur einer zu sein, ein kräftiger Geselle mit einem dichten Bart. Sie konnte erkennen, dass sein Gesicht von Narben entstellt war. Er musste eine dieser schrecklichen Krankheiten gehabt haben, die in kürzester Zeit ganze Dörfer dahinraffen konnten. Nur sehr selten gab es Überlebende, und die waren für den Rest ihres Lebens entstellt.
Viviana stieg in das Boot. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Melchor folgte. Die Ruderblätter, die fast lautlos ins Wasser glitten, waren kaum zu erkennen. Wie der Mann wissen konnte, wohin er ruderte, war Viviana unbegreiflich, aber er schien seinen Weg zu kennen.
• 31 •
V erdammt, wo steckt der Junge bloß?« Terrences Stimme klang ungehalten. Simeon zog seinen Umhang fester um seine Schultern, die kalte, feuchte Luft kroch durch jede Falte. Es war ein ungemütlicher, bedrückender Tagesanbruch, und der Nebel behinderte ihre Aktion genauso sehr wie er ihr förderlich war.
»Wir können nicht mehr auf Emmitt warten.«
»Ich verstehe nicht, wo er bleibt! Er ist gestern nach Westminster geritten, um den Bericht abzugeben, und wollte dann gleich wieder umkehren«, beschwerte sich Terrence.
»Vielleicht hat er den Weg zurück nicht gefunden, es ist ja eine unglaubliche Suppe heute!«
Terrence stapfte erneut die Straße hinauf und starrte ein letztes Mal vergeblich in das dichte, dunkle Grau. Natürlich würde Emmitt nicht kommen, der lag irgendwo auf dem Grund der Themse. Terrence ging zurück und schüttelte den Kopf.
»Keine Spur von ihm.«
»Wir müssen los.« Simeon stieg in das Boot und löste die Leine. Terrence stieß das Boot ab und sprang dann mit einem Satz ebenfalls hinein. Er überlegte kurz, ob er Simeon nicht gleich hier auf dem Wasser erledigen sollte, aber dann würde die Französin gewarnt werden. Wer weiß, was sie dann machen würde, zumal Thorn nicht gewarnt war. Nein, besser, er wartete, bis es zum Zusammentreffen kam.
Sie ruderten schweigend durch die Dunkelheit. Simeon blickte über die Schulter und versuchte im Nebel etwas zu erkennen. Hoffentlich hatte Thorn sich nicht noch Unterstützung angeheuert, dachte er. Es war ärgerlich, dass Emmitt nicht mit von der Partie war, aber immerhin hatten sie die Überraschung auf ihrer Seite, und nach allem, was er gehört hatte, war die Französin selbst auch recht wehrhaft. Er dachte an die zierliche, kleine Frau, mit der er in der versteckten Kirche heute Nachmittag diesen Plan ausgeheckt hatte. Kaum vorzustellen, dass sie eine Agentin der Feinde war.
»Dort hinten!« Terrence wies in das dunkle Grau, in dem sich ein kleines Licht im Rhythmus der Wellen auf und ab bewegte. Sie zogen die Kapuzen ihrer Umhänge über die Köpfe und legten sich in die Riemen. Aus dem Nebel schälten sich die Umrisse eines Bootes.
»Meister Hektor?«, Es war die Stimme von
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