Das Amulett der Pilgerin - Roman
den einen gefragt, wer ich bin, ehe ich ihm die Kehle durchgeschnitten hätte.« Sie trat unwillig gegen das Tischbein.
»Also, das Gepäck bringt uns nicht weiter.«
Viviana ließ die Perlenkette erneut durch ihre Finger gleiten.
»Wenn du Rinaldo wärest, was würdest du tun?«
»Ich würde nach Exeter zurückkehren und mir eine neue Ausrüstung besorgen.«
Viviana verdrehte die Augen.
»Du hast mich gefragt.«
»Ich weiß auch nicht, ich finde es nur eher unwahrscheinlich.«
Julian war anderer Meinung, zumal er glaubte, dass Rinaldo sich mit jemandem in Exeter getroffen hatte. Aber Viviana wusste nichts von seinem Verdacht und von einer Verschwörung gegen den König, und er konnte sie nicht einweihen, ohne seine eigene Identität preiszugeben. Wenn Rinaldo als Pilger allerdings wirklich so dringend nach Saint Albans wollte, könnte er ebenso gut gleich weiterreisen. Julian betrachtete Vivianas Finger, wie sie geschickt mit der Perlenkette spielten. Plötzlich stutzte er.
»Das ist gar keine Perlenkette. Das ist ein Tasbih.«
Viviana hielt in ihrer Bewegung inne und besah sich die Kette.
»Ja, du hast recht.«
Julian wunderte sich, dass sie wusste, was eine muslimische Gebetskette war.
»Ist Rinaldo denn Moslem?«
»Nein, das heißt, ich glaube nicht. Er ist doch auf dem Weg nach Saint Albans.«
»Der Teppich könnte durchaus ein Gebetsteppich sein. Was wollte er sonst damit?«
»Das weiß ich auch nicht.«
Sie blickten sich ratlos an. Die Sache wurde immer mysteriöser.
• 10 •
J ulian schrieb zwei Nachrichten. Er musste sich kurzfassen, weil er nur wenig Pergament dabeihatte. Die Nachricht an den Kardinal beinhaltete eine Beschreibung Rinaldos und Julians Plan, weiter in Richtung Saint Albans zu reisen, in der Hoffnung, den Spanier aufzuspüren. Die zweite Nachricht ging an Simeon mit der Bitte, Augen und Ohren offenzuhalten, ob irgendwo eine Frau vermisst wurde, auf die die Beschreibung von Viviana passte. Mehr konnte Julian vorerst nicht tun.
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Von dem erbeuteten Geld hatten sie für Viviana von einem der Bauern ein großes Pony gekauft. Es war etwas kühler geworden, und sie kamen gut voran. Am späten Nachmittag erreichten sie Yeovil, einen geschäftigen Marktflecken, an dem zwei Flüsse aufeinandertrafen und den Transport von Gütern erleichterten. Leider blieben ihre Nachforschungen ohne Ergebnis. Niemand hatte Rinaldo gesehen.
»Es kann auch gut sein, dass er hinter uns ist, anstatt vor uns. Immerhin hat er sein Maultier verloren und ist zu Fuß unterwegs.«
Sie schlenderten über den Marktplatz, auf dem die Händler damit begannen, ihre Buden für die Nacht abzubauen.
»Oder er hat eine andere Strecke genommen.«
Dass Rinaldo vielleicht gar nicht mehr am Leben war, erwähnten sie nicht, obwohl sie beide wussten, dass auch das eine Möglichkeit war.
»Sir, wollen Sie Ihrer schönen Frau nicht ein neues Kleid kaufen?« Einer der Händler, der Stoffe und Kurzwaren feilbot, trat in ihren Weg und hob ein fliederfarbenes Gewand hoch.
»Sie haben so eine bezaubernde Gattin, Sir, sie verdient ein schönes Kleid. Ich werde morgen weiterziehen und würde gerne mein Gepäck erleichtern.« Der Händler hielt Julian das leichte Wollkleid hin, damit er es befühlen konnte.
»Es ist eine ausgezeichnete Qualität. Das Tuch kommt aus Flandern, und ich habe es selbst eingefärbt. Meine Tochter hat das Gewand gemacht und« – er hielt Viviana das Kleid zur Begutachtung hin – »Sie werden zugeben müssen, Madame, dass meine Anna ihr Handwerk versteht.«
Julian blickte auf Viviana in ihrem inzwischen arg mitgenommenen Leinenkleid. Die Blutflecke waren immer noch in einem hässlichen Dunkelbraun zu sehen. Selbstverständlich brauchte sie ein neues Kleid. Erst jetzt fiel ihm ein, dass natürlich alle sie für ein Ehepaar halten würden. Es stünde ihm als Vivianas Gatten tatsächlich schlecht zu Gesicht, wenn er seine Frau in Lumpen herumlaufen lassen würde, während er selbst ordentliche Kleidung trug. Diese überaus sinnvolle Erklärung, nicht auffallen zu wollen, machte es Julian leichter, seinem Impuls, Viviana etwas Schönes zu kaufen, nachzugeben.
»Wie viel?«, fragte Julian den Händler, nahm das Kleid und drückte es Viviana in die Hand.
Als sie von ihrem Rundgang wieder zu ihrer Unterkunft zurückkamen, waren noch ein Kopftuch und ein Paar Schuhe dazugekommen.
»Die Leute sollen ja nicht denken, dass ich geizig bin«, sagte Julian, als er
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