Küss mich, bis der Sommer geht (Bianca) (German Edition)
1. KAPITEL
„Sind wir jetzt da, Mama? Kommt Daddy auch?“
Emily lächelte ihrem Sohn zu, obwohl sich ihr bei seinen unschuldigen Fragen das Herz zusammenzog. Sam wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass Rob irgendwann zu ihnen zurückkehren würde.
„Ja, wir sind da“, erwiderte sie schließlich. „Aber Daddy wohnt jetzt woanders, das weißt du doch. Ich fange hier eine ganz neue Arbeitsstelle an.“
Sie lenkte den Wagen auf das Gelände von Evans & Son . So weitläufig hatte sie sich die Ranch gar nicht vorgestellt. Die Gebäude waren von schier endlosen Weideflächen umgeben. Emily fuhr langsam die Auffahrt entlang, die auf das weiße, zweistöckige Wohnhaus zuführte. Links davon stand eine riesige Scheune, in dem Gebäude rechts war offenbar eine Werkstatt untergebracht.
Es gab noch ein paar weitere Nebengebäude, und alle machten einen ordentlichen, gepflegten Eindruck. Evans & Son stand wirtschaftlich offenbar nicht schlecht dar. Was man von Emily im Moment nicht gerade behaupten konnte, aber daran wollte sie genau jetzt etwas ändern.
Sie parkte das Auto rechts vom Wohnhaus und atmete tief durch, um ein bisschen ruhiger zu werden. Dann sah sie im Rückspiegel nach Sam. Der Junge blickte sich mit großen Augen um.
„Aber ich will, dass Daddy bei uns ist!“
„Das weiß ich, mein Schatz“, erwiderte Emily geduldig. Sam wusste es nicht besser, er war ja erst fünf. „Wenn wir uns hier erst mal eingerichtet haben, kannst du ihm einen Brief schreiben. Ich helfe dir auch dabei. Vielleicht malst du ihm noch ein schönes Bild dazu, wie findest du das?“
Zu sehen, wie traurig und verwirrt Sam noch immer war, versetzte ihr jedes Mal einen Stich. In der letzten Zeit war ihr Sohn viel anhänglicher gewesen als sonst. Kein Wunder – innerhalb kürzester Zeit hatte sich für sie beide alles verändert: Rob war ausgezogen, sie hatte das gemeinsame Haus verkauft, und jetzt waren sie aus Calgary weggezogen. Sam hatte sich von seinen Kindergartenfreunden und seiner gewohnten Umgebung verabschieden müssen. Aber von einem Fünfjährigen konnte sie nicht verlangen, dass er ihre Beweggründe verstand. In dem Haus in Calgary steckten ebenso viele schöne wie schmerzliche Erinnerungen, sie konnte dort einfach nicht mehr wohnen. Nach seinem Auszug hatte Rob ihnen nicht nur die finanzielle Unterstützung entzogen, sondern – was viel schlimmer war – sich auch persönlich vollständig von ihnen gelöst.
Emily konnte nicht fassen, wie er ihrem gemeinsamen Sohn so etwas antun konnte. Aber es gab im Moment Dringenderes, als sich darüber Gedanken zu machen. Sie konnte es sich nicht leisten, der Vergangenheit nachzutrauern. Sie musste und wollte für sich und Sam eine neue gemeinsame Zukunft aufbauen, eine glückliche Zukunft. Dass sie nun alle Entscheidungen alleine treffen musste, bedeutete eine große Verantwortung, aber irgendwie fühlte sie sich auch befreit.
„Wartest du eben im Auto?“ Sie stieg aus. „Ich spreche nur kurz mit Mr Evans, dann gehen wir rein.“
„Ist gut, Mama.“ Sam griff nach einem Bilderbuch.
Emily seufzte traurig. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre ihr Sohn viel zu vernünftig für sein Alter. Ob Robs und ihre Trennung wohl seine Kindheit verkürzt hatte?
„Ich beeile mich, mein Schatz.“ Sie warf ihm eine Kusshand zu und strich sich das T-Shirt glatt, zu dem sie eine siebenachtel Jeans trug. Jetzt bloß nichts falsch machen, dachte sie und probierte ein freundliches, möglichst natürliches Lächeln. Mr Evans sollte ihr nicht anmerken, wie nervös sie war. Sie ging die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf, nahm all ihren Mut zusammen und klopfte an.
Keine Reaktion.
Das ging ja schon mal nicht besonders gut los. War das etwa ein Zeichen dafür, dass sie die falsche Wahl getroffen hatte? Dass sie nicht hätte herkommen sollen? Mit der Entscheidung, das Haus zu verkaufen und die Stadt zu verlassen, hatte sie Sams und ihr Leben ganz schön auf den Kopf gestellt, das war ihr durchaus bewusst.
Unwillkürlich drehte sie sich zu ihrem Sohn um, der immer noch ruhig im Auto saß, den Kopf über das Bilderbuch gebeugt. Doch, dachte sie. Ich habe mich genau richtig entschieden. Für mich ist es das Wichtigste, dass ich immer für Sam da sein kann. Und das kann ich hier. Außerdem bringe ich die besten Voraussetzungen für eine Tätigkeit als Haushälterin mit.
Vielleicht hatte Mr Evans sie einfach nicht gehört? Sie klopfte erneut. Dass sie ihren Auftraggeber vorher nie
Weitere Kostenlose Bücher