Das Amulett der Pilgerin - Roman
Viviana die Tür der Schankstube aufhielt. Sie lächelte.
»Ich gehe mich umziehen. Die Leute sollen auch nicht denken, dass du eine hässliche Frau hast.«
»Das denkt sowieso keiner.« Er sah Viviana nach, die eilig die Treppe hinauf zu ihrer Kammer im ersten Stock lief. Sie sah auch in ihrem abgenutzten, fleckigen Kleid wie eine Prinzessin aus. Er fragte sich, wie es wäre, wenn sie tatsächlich seine Frau wäre. Doch eine Frau wie Viviana war mit aller Wahrscheinlichkeit schon vergeben, und irgendwo wartete ein Mann auf sie. Julian setzte sich an einen der Tische und bestellte Bier. Er musste sich zusammenreißen und jeden Gedanken in diese Richtung aus seinem Kopf verbannen. Als Viviana jedoch zehn Minuten später in ihrer neuen Ausstattung die Treppe herunter und auf ihn zugeschwebt kam, klopfte Julians Herz schneller, und er wünschte nichts mehr, als dass sie die Seine wäre.
»Wie sehe ich aus?« Sie drehte sich einmal um sich selbst und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Du siehst sehr schön aus.«
Diesem Urteil schlossen sich die anwesenden Männer der Schankstube an, die die exotische Schönheit mit den sinnlichen Lippen und der katzenhaften Grazie die Treppe hatten herunterkommen gesehen.
Viviana setzte sich zu Julian an den Tisch.
»Was gibt es zu essen?«
»Ich weiß nicht.« Julian winkte das Schankmädchen zu sich. Nachdem Viviana die Nase über Schweinebacke, gefüllten Saumagen und Kohlgemüse gerümpft hatte, einigte man sich auf gebratene Ente, von der Julian den Verdacht hatte, dass sie gewildert worden war. Sie schmeckte aber ausgezeichnet, und auch das Bier, das hier serviert wurde, war erheblich besser als in Exeter. Sie spielten Backgammon, bis die Kerze auf ihrem Tisch heruntergebrannt war. In ihrem flackernden Schein stiegen sie die Treppe hinauf in ihre Kammer.
Als Julian die Tür hinter sich zuzog und sich wieder umdrehte, stand Viviana dicht vor ihm. Er bewegte sich nicht und blickte auf sie hinunter. In der Tiefe ihrer dunklen Augen spiegelte sich das Kerzenlicht. Julian streckte die Hand aus und strich über Vivianas Wange, seine Fingerspitzen berührten den seidigen, schwarzen Zopf, der ihr über den Rücken fiel. Er nahm ihn, streifte das Band, mit dem er zusammengehalten wurde, ab und löste das glänzende Haar. Es glitt geschmeidig und glatt zwischen seinen Fingern hindurch und fiel auf ihre Schultern.
»Du bist wunderschön.« Julians Stimme war rau.
Das mühsam unterdrückte Begehren und die unausgesprochenen Worte, die zwischen ihnen in der warmen Nachtluft standen, schienen so schwer zu sein, dass er sie hätte greifen können.
»Julian, wartet irgendwo eine Familie auf dich?«
»Nein.«
Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Aber irgendwo wartet ein Mann auf dich, dessen Frau du bist.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Es wird sicherlich so sein.«
»Ich weiß es nicht.«
Julian schluckte hart. Er wollte sie besitzen, nicht nur für eine Nacht, für immer.
»Bald wirst du dich erinnern.«
»Und wenn nicht? Wenn ich mich nie mehr erinnere?«
Gequält schloss er die Augen.
»Warum willst du mich nicht?«
»Weil du sicher einem anderen gehörst.«
»Aber das wissen wir doch nicht.«
Julian schob sich an ihr vorbei und ging in der Kammer auf und ab. Viviana setzte sich auf das Bett und beobachtete ihn. Schließlich blieb er stehen.
»Und wenn du dich doch erinnerst? Irgendwann. Was dann?«
»Das werden wir dann sehen.«
Er setzte sich zu ihr auf das Bett und nahm ihre Hand.
»Vor sechs Jahren ist meine Frau spurlos verschwunden. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Vielleicht hat sie wie du das Gedächtnis verloren? Vielleicht lebt sie irgendwo als die Frau eines anderen, weil sie mich einfach vergessen hat?«
Viviana drückte seine Hand.
»Du bist wie ein neugeborenes Kind, Viviana, dein Gewissen ist rein. Du fühlst dich frei, weil du dich nicht an die Versprechen erinnern kannst, die du einmal gegeben hast. Aber das ist eine Illusion, denn du hast ein Leben gehabt, ehe du an den Strand gespült wurdest. Irgendwo sucht dich jemand verzweifelt, weil er das Licht seines Lebens verloren hat.«
Julian blickte in ihre dunklen Augen.
»Du bist ganz sicher eines Mannes einziges Glück, Viviana. Wie könnte ich ihm das wegnehmen?«
Sie ließ den Kopf hängen, und Julian streichelte ihre Hand.
»Glaub mir, wenn du frei wärest, ich würde dich niemals zurückweisen. Ich würde auf Knien um deine Gunst betteln. Aber ehe wir nicht wissen,
Weitere Kostenlose Bücher