Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
spezielles, kompliziertes Ritual vollzieht, ein Blick auf den Mann gewährt, der ihre eine wahre Liebe werden wird. Über die Einzelheiten des Rituals gibt es verschiedenste Angaben, je nach Ort und Zeit, in der die Legende erzählt wurde. Mal heißt es, man müsse fasten, ein andermal, dass man vor dem Zubettgehen über die Schulter in einen Spiegel schauen oder auf einem seidenen Kissen schlafen muss, unter dem ein selbst gewebter Liebesknoten liegt. Irgendwann wurde das Ritual im Volksmund mit dem Tag der heiligen Agnes verknüpft, aber niemals wurde klar, wie mächtig der Zauber wirklich ist.
Er ruft die vier Elemente der Natur an, um Ströme positiver und negativer Energie in einen einzigen, kontinuierlichen und sehr starken Fluss von Raum und Zeit zu verwandeln. Wie ich schon sagte, ich kann es nicht beweisen. Meine Güte, ich kann es ja nicht mal erklären. Ich kann nur sagen, dass es nicht jeden Tag passiert. Tatsächlich ist es nur in einer einzigen Nacht möglich, und dann muss der Zauber bis ins kleinste Detail ohne einen einzigen Fehler vollzogen werden. Es ist die Nacht des 20. Januars, der Tag der heiligen Agnes und, laut einer Familienlegende, die kälteste Nacht des Jahres.
Man mag es glauben oder nicht, aber ich habe den Zauber zufällig entdeckt. Er stand in schwungvoller, verzierter Handschrift auf ein altes Stück Pergament geschrieben, das zwischen den Seiten des Buchs der Zauber steckte. Damals liebte ich noch das riesige Buch mit seinem abgegriffenen Ledereinband und dem mysteriösen, berauschenden Geruch, der von seinen porösen Seiten aufstieg. Und am meisten liebte ich seine beruhigende Schwere auf meinem Schoß, wenn ich mich damit auf den großen Polstersessel in Grans abgeschiedenem Turmzimmer verzog.
Ich konnte mich nur nach Herzenslust darin versenken, wenn meine Eltern nicht in der Nähe waren. Meine Mutter wollte nichts mit dem zu tun haben, was laut Gran unser heiliges Geburtsrecht war. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, die Wahrheit vor anderen zu verbergen, immer verzweifelt darauf bedacht, sich anzupassen und »normal« zu sein. Sie hatte es sogar geschafft, meinen Vater im Dunkeln zu lassen, bis ihre stürmische erste Verliebtheit vorbei war und sie sich blitzschnell verlobt hatten. Sie waren schon fast ein Jahr lang verheiratet, als ihr die glaubwürdigen Erklärungen für Grans manchmal – nennen wir es – unorthodoxes Verhalten ausgingen und sie gezwungen war, alles zu gestehen.
In den Augen meiner Mutter bedeutete, normal zu sein, auch normale Kinder zu haben, und sie wollte absolut nicht, dass Chloe und ich mit Magie in Berührung kamen. Sie war überzeugt, dass es nur Ärger nach sich ziehen und schließlich unser Leben ruinieren würde. Mein Vater war sogar noch hysterischer in Bezug auf das, was er als »Grans Hokuspokus-Quatsch« bezeichnete. Magie war eine ständige Quelle von Streitigkeiten und Stress, also hielten wir um des Hausfriedens willen alles Magische ziemlich geheim, wann immer er zu Hause war. Was aus irgendeinem Grund nicht besonders häufig war. Um ehrlich zu sein waren meine Eltern meist zu sehr mit dem Drama ihres eigenen Lebens beschäftigt, um sich um uns zu kümmern.
Das war auch gut so, da es Gran nicht leichtfiel, sich zurückzuhalten, besonders unter ihrem eigenen Dach. Sie war eine extrem willensstarke Frau, die ihren nervigen Schwiegersohn gern in eine Cocktailolive verwandelt hätte, um ihm einen Zahnstocher durchs Herz zu bohren. Gran und mein Vater waren sich in gegenseitiger Verachtung zugetan. Nur seine regelmäßige Drohung, auszuziehen – genauer gesagt, mit seiner Frau, Chloe und mir auszuziehen – zwang sie dazu, zwischen »ihn nicht wütend machen« und »trotzdem tun, was sie wollte« eine feine Balance zu halten.
An dem Tag, an dem ich den Zauberspruch fand, hatten meine Eltern Chloe, die gerade neun geworden war, mit ins Kino genommen, um »Aschenputtel« zu sehen. Ich hatte Gran und das Buch der Zauber den ganzen Nachmittag für mich allein. Ich wusste sofort, dass dieser Zauber mein Leben für immer verändern würde, noch bevor ich ihn ganz gelesen hatte. Es war, als wären die Worte aus dem brüchigen Pergament aufgestiegen und zu einem Teil von mir geworden, als wären sie ein Versprechen, das vor langer Zeit in mein Herz geschrieben wurde.
Alte Mächte, leuchtet hell
Durch die Zeit in diese Nacht,
Zeigt Schicksal mir und Leidenschaft,
Lasst mein Herz erkennen der Liebe Macht.
Zeigt Schicksal mir
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