Moor
eins.
HERBST
Niemand spricht hier. Wo du hinlauschst, ist Wasser, stehen Erlen, in den Binsen zerrt Wind. Auch der Nebel hat keinen Ton, nur seine Gestalten, die aus dem Nichts kommen, dich anstarren und gehen. Den Worten am ähnlichsten ist noch der Regen. Er rauscht in fließenden Sätzen herab, gerät über den Bäumen ins Stocken, stottert auf Blätter die Konsonanten, gluckst dunkle Vokale in Mulden, und wenn das eine ins andere tropft, eine Bö fauchend durchs Laub fährt, flinke Wellen aufwirft, den Dunst zerreißt und das Schilf verwirrt, hörst du in alldem doch meine Stimme.
Du hockst auf dem Baumstumpf, Schirm vorm Gesicht, Schultern gebuckelt, dein Finger steckt im Mooskissen an der Wurzel, oder ist es die Pflanze, die am Finger klebt, eine geheime Berührung, irgendwie zärtlich. Der Film auf den Blättern fühlt sich schmierig an, wie der Tropfen, den du dir am Morgen aus der Schlafanzughose gewischt hast. Du gibst dem Gefühl die Farbe Weiß. Weiß sind die Morgen mit Marga am Teich. Ihr Bademantel, der Dampf in den Gräben, das unentschlossene Licht zwischen den Stämmen und ihr Spiegelbild auf dem Wasser, das erst braun und durchsichtig wird, wenn die Sonne steigt. Als du noch Kind warst, musstest du an Cola denken, ein tiefes Loch voll dort, wo der alte Ast hineingreift und etwas beharrlich nach unten drückt, du hast dir vorgestellt, wie es ist, in der Brause zu ertrinken. Doch der Baum hat sich noch nie bewegt, nichts tauchte jeauf, jetzt bist du dreizehn, und selbst wenn die Mittagssonne senkrecht steht, ist das Wasser dort schwarz, grimmig und verschwiegen, wie heute in dem Traum, aus dem Marga dich weckte.
Du warst nackt und in lebensgefährlicher Tiefe, mehr hast du nicht mehr gewusst, als sie die Bettdecke wegzog und dein Blick wie jeden Morgen auf die große Wanduhr fiel, auf der ursprünglich ein dottergelber Mond freundlich grinste, den sie als Geburtstagsgeschenk zum blutroten Kopf einer Heidelibelle übermalt hatte, ihr erster Angriff auf deine Kindheit, so dass nun nicht mehr das gütige Nachtgesicht, sondern ein Raubinsekt die Zeit deiner Träume bemisst, aus den Facettenaugen des Zifferblatts, das kurz nach sieben anzeigte, und das Zimmer noch dunkel, jetzt war der Sommer endgültig vorbei. Sie drückte dir den Kuss mit dem Schlafgeruch auf die Stirn und sagte: Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?
Du blickst auf deine Armbanduhr. Schon kurz vor halb acht. In vierzig Minuten beginnt die Deutschstunde, in der du dein Referat halten musst, Thema: die Libelle. Du hättest es gerne noch mit der Mutter geübt. Sie steht im Nachthemd am Ufer, im feuchten Seidenstoff zeichnen sich die Konturen ihres Körpers ab, Brust, Hüftknochen, die Höcker des Rückgrats wie unter einer zweiten Haut. Sie pellt sich heraus, ruft: Schau zu den Erlen!, und wirft dir das Bündel zu. Du streckst die Hand aus, eine automatische Bewegung, bei Wind und Wetter an unzähligen Morgen einstudiert, du beherrschst sie buchstäblich im Schlaf, denn die Müdigkeit kehrt zurück und lähmt deine Augen, die eine Sekunde zu tief in das Nest zwischen ihren Schenkeln dringen, das sie dir in derWurfbewegung zukehrt und gleichzeitig vor dir verbirgt, einen Arm halb ausgestreckt, den anderen geknickt über dem Schoß, wie zwei zaghaft auffächernde Flügel. Wenn eine Libelle schlüpft, heißt es in deinem Vortrag, ist ihr der neue Körper noch fremd. Der Moment kommt dir verlangsamt vor, eine Zeitlupe wie am Morgen, als du beim Erwachen die Holzuhr sahst und sich auf dem Insekt der Sekundenzeiger nicht mehr zu regen schien, dann aber doch zur nächsten Ziffer sprang.
Das Nachthemd klatscht dir kalt ins Gesicht, du schreckst hoch. Jeden Tag hat sie sich vor dir ausgezogen, doch erst jetzt verstehst du, warum du immer zu den Erlen schauen solltest. Sie kreist die Arme, dehnt den Rücken, steht schon mit den Füßen im Wasser. Du frierst vom Hals abwärts, nur auf den Wangen spürst du plötzlich die Hitze. Wie sie dir ihre Blöße vorführt. Dein Blick flieht ans gegenüberliegende Ufer, doch die Erlen sind überall, die Erlen umstehen den ganzen Teich, erst bei dem abgespaltenen Ast bleibst du hängen. In dem Traum, erinnerst du dich, warst du an dieser Stelle unter Wasser, eingeschlossen in das brausende Dunkel, und als du um Hilfe rufen wolltest, quoll dir der Torf in den Mund. Dein Körper schwoll von innen gegen die Haut und zerbarst. Dann muss der Ast dich hochgerissen haben, du schlugst die Augen auf.
Zu
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