Das Amulett
»Schon bald werde ich König sein – und du wirst mein General.« Er spähte zu Alynéa, die sich über Karandras‘ Leichnam gebeugt hatte. »Sei wachsam.«
Für Dergeron war der Fund des Hexers selbst unbedeutend ... sehr wohl hingegen erweckte das Buch, das der gefrorene Leichnam noch immer in dürren Fingern hielt, sein Interesse.
Alynéa ließ sich auf ein Knie hinab und beugte sich über den toten Körper. Karandras lag inmitten des verschneiten Hofs einer verfallenen Festung, aufgespießt von einem kunstvoll gearbeiteten Zweihänder, der dem Zahn der Zeit bewundernswert getrotzt hatte. Sie kannte den Namen der Klinge, die Karandras durchbohrt und den Krieg beendet hatte. Sardasil , das Schwert Throndimars, des größten Helden der Menschheit. Sardasil wurde gemeinhin als Elfenschwert bezeichnet, doch beim ersten Blick auf die mächtige Waffe erkannte sie, dass es sich zweifellos um zwergische Handwerkskunst handelte. Weitere Beachtung schenkte sie der Waffe nicht, denn ein anderer Gegenstand zog ihre Aufmerksamkeit in seinen Bann.
Vor ihr lag das Buch Karand . Tizir hatte einst davon gesprochen, doch sie hätte nie für möglich gehalten, es selbst zu finden. Dergeron, dieser Narr, wollte vermutlich nur das magische Schwert bergen. Wahrscheinlich wusste er nichts von der Bedeutung des Buchs.
Unscheinbar prangte es in Karandras‘ toten Fingern, ein dicker Foliant mit geschwärztem Ledereinband. Dicke Buchdeckel hielten das Wissen des Hexers gefangen. Zwei Schnallen aus brüniertem Metall verschlossen es seit Jahrhunderten. Eine Vertiefung auf der Vorderseite erweckte ihre Aufmerksamkeit. Die Form erinnerte sich an einen Stein oder einen Talisman. Eine Art Schlüsselloch? überlegte sie.
Alynéa entschied, dass es später in Totenfels herausfinden konnte, denn die Kälte wurde allmählich bedrohlich. Außerdem könnte Dergeron Verdacht schöpfen, sollte er ihre Begeisterung über das Buch bemerken. Sie erhob sich und drehte sich zu ihm um. »Throndimars Schwert wartet auf dich, Dergeron.«
Diese Närrin , dachte Dergeron triumphierend und musste an sich halten, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Er ging gemessenen Schrittes an ihr vorbei und baute sich vor Karandras‘ Leiche auf. Throndimars Schwert übte tatsächlich eine gewisse Anziehungskraft auf ihn aus, das konnte er nicht verleugnen. Ein meisterlich gefertigter Zweihänder mit einer zwei Finger dicken Hohlkehle und insgesamt sicher fünf Fuß lang. Dass die Klinge die Jahrhunderte ohne den geringsten Ansatz von Verwitterung überdauert hatte, zeugte von ihrer Güte. Kantige Runen, die Dergeron für zwergisch hielt, waren in die Hohlkehle eingraviert worden und schimmerten im Licht der tief stehenden Sonne blutrot, während die Klinge selbst in feinstem Gold erstrahlte. Die Parierstange war an den Enden zweigeteilt; ein Teil des Endes bog sich zur Klingenspitze, ein anderer leicht zum Knauf zurück. Dieser wiederum bestand aus schlichtem, dunklem Metall.
Er tat, als würde er weiter die Waffe in Augenschein nehmen, tatsächlich jedoch plante er sein weiteres Vorgehen. Alynéa stand knapp vier Fuß rechts hinter ihm, Verren seitlich von ihm. Dergeron bezweifelte, dass er schnell genug wäre, Alynéa und Cantas zu töten. Wenn er jedoch zuerst den Krieger ausschaltete, hätte sie genug Zeit, sich einen Zauber zurechtzulegen.
Vermutlich würde Verren ihn angreifen, sobald er nur die Hand auf sein Schwert legte. Die Antwort lag – steckte vielmehr – vor ihm: Throndimars Schwert. Er konnte die Waffe aus der gefrorenen Leiche reißen, sich auf Alynéa stürzen und ihren sterbenden Körper als Schutzschild gegen Giftpfeile oder Wurfmesser von Verren benutzen.
Allerdings galt es die möglichen Schutzzauber auf dem Buch Karand zu bedenken, und so verdrängte er das Vorhaben. Alynéa dachte ohnehin, dass er nur wegen des Schwerts hier war. Er würde es an sich nehmen, sie würde das Buch für ihn bergen, danach würde er sie töten. In dieser Reihenfolge , dachte Dergeron.
Ein beunruhigender Gedanke schoss ihm durch den Kopf, als seine Finger den Griff beinahe berührten. Was, wenn nicht bloß auf dem Buch, sondern auf der gesamten Leiche ein Bannzauber liegt? fragte er sich. Möglicherweise war es eine Falle, die zuschnappte, sobald er das Schwert berührte. Vielleicht hatte Alynéa einen solchen Zauber erspürt und hoffte nun, dass er sich auf diese Weise selbst tötete. Schlaue kleine Dirne , beglückwünschte er sie im Geiste.
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