Das Anastasia-Syndrom
weicher erscheinen und unterstrich das tiefe Graublau der Augen. »Ich denke, ich liebe meine Arbeit genau wie du und habe mich darin vergraben, um zu verdrängen, daß ich im wahren Sinn des Wortes kein eigenes Leben hatte, seit Kenneth starb. Es gab eine Zeit, da konnte ich Termine einhalten und trotzdem alle Verpflichtungen als Ehefrau eines Korresponden-ten beim Weißen Haus spielend einbauen. Ich finde, es trägt reiche Früchte, Frau und Schriftstellerin zugleich zu sein.«
Stephen griff lächelnd nach ihrer Hand. »Du siehst, wir denken auf der gleichen Wellenlänge, stimmt’s?«
Judith zog ihre Hand zurück. »Eines solltest du dir reiflich überlegen, Stephen. Mit vierundfünfzig bist du nicht zu alt, eine Frau zu heiraten, die dir ein Kind schenken kann. Ich habe mir immer Familie gewünscht, und diese Hoffnung wurde nicht er-füllt. Mit sechsundvierzig besteht da bestimmt keine Aussicht mehr.«
»Mein Neffe ist ein großartiger junger Mann und hängt sehr an Edge Barton Manor. Ich freue mich für ihn, daß er es eines Tages zusammen mit dem Titel erben wird. In meinem Alter fühle ich mich mit einer Vaterschaft einfach überfordert.«
Stephen kam auf einen Brandy mit nach oben. Sie tranken sich feierlich zu, um zu besiegeln, daß sie beide ihr Privatleben vor der Öffentlichkeit abschirmen wollten. Judith konnte jetzt, während sie an ihrem Buch schrieb, keine Klatschkolumnisten gebrauchen, die sie mit neugierigen Fragen belästigten. Und Stephen wollte, wenn es zu Neuwahlen kam, Auskunft über politi-sche Sachfragen geben, nicht über seine Beziehung zu ihr.
»Obwohl sie dich natürlich ins Herz schließen werden«, bemerkte er. »Schön, begabt und eine britische Kriegswaise.
Kannst du dir vorstellen, was das für ein Fest für sie ist, wenn sie uns in Verbindung bringen?«
Plötzlich stand ihr die Erinnerung an den Zwischenfall vom Nachmittag wieder lebhaft vor Augen. Das kleine Mädchen,
»Mami, Mami!« Als sie vergangene Woche bei der Statue von Peter Pan in Kensington Gardens war, hatte sie die quälende Erinnerung verfolgt, schon einmal dort gewesen zu sein. Vor zehn Tagen war sie in Waterloo Station beinahe ohnmächtig geworden, fest überzeugt davon, daß sie eine Detonation gehört, die Trümmer herabregnen gespürt hatte… »Es gibt da etwas, Stephen, das mir sehr wichtig ist. Ich weiß, daß sich niemand gemeldet hat, als ich in Salisbury gefunden wurde, aber ich war gut gekleidet, offensichtlich wohlbehütet. Gibt es irgendeinen Weg, wie ich meine leiblichen Angehörigen aufspüren könnte?
Hilfst du mir dabei, Stephen?«
Sie fühlte, wie sich seine Arme strafften. »Meine Güte, Judith, daran solltest du nicht mal im Traum denken! Du hast mir er-zählt, daß sämtliche Anstrengungen unternommen wurden, deine Angehörigen ausfindig zu machen, und kein einziger Anhaltspunkt zutage kam. Deine nächsten Verwandten sind vermutlich bei den Luftangriffen umgekommen. Und selbst wenn es möglich wäre, hätte es uns gerade noch gefehlt, irgendeinen obskuren Vetter aufzustöbern, der sich dann als Dealer oder als Terrorist herausstellt. Bitte, schlag dir das mir zuliebe aus dem Kopf, zumindest so lange, wie ich in der Öffentlichkeit stehe.
Danach helfe ich dir, das verspreche ich.«
»Cäsars Frau muß ohne Fehl sein?«
Er zog sie an sich. Sie spürte die feine Wolle seines Jacketts an ihrer Wange, spürte die Kraft seiner Arme, die sie umschlossen. Sein Kuß, leidenschaftlich, verlangend, erregte sie, erweck-te Gefühle und Wünsche in ihr, die sie entschlossen unterdrückt hatte, als sie Kenneth verlor. Doch trotzdem wußte sie, daß sie mit der Suche nach ihren leiblichen Angehörigen nicht endlos warten konnte.
Sie löste sich aus der Umarmung. »Du hast doch in aller Herrgottsfrühe eine Konferenz«, erinnerte sie ihn. »Und ich möchte versuchen, heute nacht noch ein Kapitel zu schreiben.«
Stephens Lippen streiften ihre Wange. »Das habe ich mir selbst eingebrockt, ich weiß. Aber du hast ganz recht, zumindest für den Augenblick.«
Judith beobachtete am Fenster, wie Stephens Chauffeur ihm die Tür des Rolls-Royce aufhielt. Es mußte zu Neuwahlen kommen. Würde sie demnächst als Frau des Premierministers von Großbritannien in diesem Rolls-Royce fahren? Sir Stephen und Lady Hallett…
Sie liebte Stephen. Weshalb dann diese Angst? Ungeduldig ging sie ins Schlafzimmer, zog ein Nachthemd und einen warmen wollenen Morgenrock an und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Nach
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