Das Anastasia-Syndrom
bewundernswerte Wesen auf Revolutionen spezialisiert, wo ich ihr jede Menge köstlichen Klatsch liefern könnte, werde ich nie verstehen.
Trotzdem sind ihre Bücher über die Französische und die Amerikanische Revolution einfach hervorragend und lesen sich dabei wie Romane. Jetzt schreibt sie über unseren Bürgerkrieg, Karl I.
und Cromwell. Das Thema absorbiert sie restlos. Ich befürchte stark, daß sie einige finstere Geheimnisse herausfindet, die manche von uns lieber nicht über unsere Vorfahren wissen möchten.«
Fiona stoppte ihren Redefluß erst, wenn sie ganz sicher war, daß sie jeden Anwesenden über die Persönlichkeit Judiths auf-geklärt hatte; sobald dann Stephen erschien, machte sie eilends die Runde, um überall flüsternd zu verbreiten, der Innenminister und Judith seien hier, in diesem Hause, Tischnachbarn gewesen, und jetzt… Augenrollen und vielsagendes Schweigen.
Am Eingang zum Empfangsraum hielt Judith kurz inne, um das Bild in sich aufzunehmen. Fünfzig bis sechzig Personen, schätz-te sie rasch, zumindest die Hälfte davon vertraute Gesichter: führende Parlamentarier, ihre englischen Verleger, Fionas adlige Freunde, ein berühmter Dramatiker… Sooft sie diesen Raum betrat, schoß es ihr durch den Kopf, war sie immer wieder hin-gerissen von der erlesenen Schlichtheit der in gedämpften Farb-tönen bezogenen antiken Sofas, den museumsreifen Gemälden, den zauberhaft dezent drapierten schmalen Vorhängen, von denen die Glastüren zum Garten eingerahmt wurden.
»Miss Chase, das stimmt doch?«
»Ja.« Judith nahm ein Glas Champagner von einem Kellner entgegen, während sie Harley Hutchinson, Fernsehstar und Englands führender Klatschkolumnist, mit einem unverbindlichen Lächeln bedachte. Anfang Vierzig, lang und dürr, neugierige haselnußbraune Augen, glattes braunes Haar, das ihm in die Stirn fiel.
»Ich darf Ihnen doch sagen, daß Sie heute bezaubernd aussehen?«
»Vielen Dank.« Judith lächelte kurz und wollte weitergehen.
»Es ist immer ein Genuß, wenn eine schöne Frau auch noch einen untrüglichen Sinn für Mode besitzt. Eine Kombination, die man bei der Oberschicht hierzulande selten antrifft. Wie läuft’s mit Ihrem Buch? Finden Sie unsere kleinen Querelen zu Cromwells Zeit ebenso interessant, wie über die französischen Bauern und die amerikanischen Kolonisten zu schreiben?«
»Nun, ich denke, Ihre kleinen Querelen können es mit den anderen durchaus aufnehmen.« Judith spürte, wie die durch ihre Halluzination von dem kleinen Mädchen hervorgerufene Angst zu schwinden begann. Der kaum verhüllte Sarkasmus, den Hutchinson als Waffe benutzte, brachte sie wieder ins Gleichge-wicht.
»Eine Frage, Miß Chase. Halten Sie Ihr Manuskript bis zur Fertigstellung unter Verschluß, oder lassen Sie andere an dem Schreibprozeß teilhaben? Manche Schriftsteller sprechen gern über ihr Tagewerk. Wieviel weiß beispielsweise Sir Stephen über Ihr neues Buch?«
Judith fand es an der Zeit, ihn zu ignorieren. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe Fiona noch nicht begrüßt.« Sie durchquerte den Raum, ohne Hutchinsons Antwort abzuwarten. Fiona drehte ihr den Rücken zu. Als Judith sie ansprach, wandte sie sich um, küßte sie rasch auf die Wange und murmelte: »Gleich, Schätzchen. Endlich habe ich Dr. Patel erwischt und möchte unbedingt hören, was er zu sagen hat.«
Dr. Reza Patel, der weltbekannte Psychiater und Neurobiologe.
Judith musterte ihn eingehend. Um die Fünfzig. Feurige schwarze Augen unter buschigen Brauen. Häufiges Stirnrunzeln, wenn er redete. Dichtes dunkles Haar, das sein ebenmäßiges braunes Gesicht umrahmte. Gutgeschnittener grauer Nadelstreifenanzug.
Außer Fiona umdrängten ihn noch vier bis fünf andere und lauschten ihm – von skeptisch bis andächtig. Judith wußte, daß Patels Fähigkeit, Patienten unter Hypnose in die Frühkindheit zurückzuversetzen und sie traumatische Erfahrungen genau schildern zu lassen, als größter Durchbruch in der Psychoanaly-se innerhalb einer Generation galt. Sie wußte auch, daß seine neue Theorie, die er das Anastasia-Syndrom nannte, die wissen-schaftliche Welt schockiert und beunruhigt hatte.
»Ich rechne nicht damit, den Beweis für meine Theorie in ab-sehbarer Zeit antreten zu können«, sagte Patel. »Aber immerhin haben noch vor zehn Jahren viele über mich gespottet, weil ich die Auffassung vertrat, eine Kombination von leichter Meditation und Hypnose könne die von der Psyche als Selbstschutz er-richteten
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