Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
haben.
Das erklärt auch, warum verschiedene Mitglieder einer Familie in meinem Büro oft darüber uneinig sind, wie sich ihr Hund verhält. »Macht er nicht!«, sagt eine Frau, verärgert darüber, dass ihr Ehemann gerade etwas beschreibt, was ihr Hund noch nie in seinem Leben getan hat. Aber ihr Hund hat es vielleicht getan, egal was »es« ist, nur vielleicht nicht in ihrer Anwesenheit. Genauso wie Sie und ich in manchen Situationen schon Dinge getan haben, die wir in anderem Zusammenhang nie getan hätten, ist es auch für Hunde normal, sich an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Menschen auch verschieden zu benehmen. Rocky könnte zuhause seinen weiblichen Menschen anknurren, den männlichen Menschen aber nicht. Ginger apportiert Tennisbälle im Wohnzimmer, aber nicht im Garten. Duke ist ein Engelchen beim Tierarzt, aber grob und fordernd zuhause. Geraten Sie also nicht in einen Ehestreit darüber, wie sich ihr Hund verhält. Vielleicht beschreibt Ihre Frau etwas, das nur geschieht, wenn Sie nicht da sind.
Auch Hundetrainer und Tierärzte würden gut daran tun, ihren Mitmenschen mehr Glauben zu schenken. Erstaunlich häufig beklagen sich bei mir Hundehalter »Keiner glaubt mir, aber ehrlich, ich schwöre Ihnen, er schaut mir direkt in die Augen und knurrt mich an!« Ich hatte schon Kunden, meistens Frauen, die mir ihre Narben und Schrammen als Folge von Hundebissen mit einer Art von siegreicher Erleichterung zeigten – weil sie endlich einen Beweis für das hatten, worüber sie sich schon seit Monaten beschwerten. Ihr Hund stellt währenddessen in meinem Büro die Personifizierung eines »perfekten« Hundes dar. Ich mache in solchen Fällen immer klar, dass Hunde sich an verschiedenen Orten verschieden benehmen und dass ich mir gut vorstellen kann, dass der brave, unschuldige Schmusejunge in meinem Büro sich zuhause anders benehmen könnte. 6
Hunde benehmen sich nicht nur unterschiedlich in verschiedenen Umgebungen, sondern auch unterschiedlich in gleicher Umgebung, aber zu verschiedenen Tageszeiten. Auch dies scheint manchen Hundebesitzern unerklärlich zu sein: »Wie kann er heute morgen so lieb und gestern abend so mürrisch sein?« Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem Sie eben noch freundlich und in der nächsten Minute mürrisch sind. Nur wenige von uns reagieren immer genau gleich auf die verschiedenen Ärgernisse im Leben. Letzte Woche, als ich nach dem Wochenende glücklich und entspannt war, ließ ich eine meiner Lieblingsschüsseln fallen und reagierte nur mit einem Achselzucken. Ein paar Tage später fiel mir nach einer stressigen und ermüdenden Woche ein Glas herunter, an dem mir nicht viel liegt, aber ich fluchte so laut, dass meine Hunde den Raum verließen. Es ist so typisch für uns, gute und schlechte Tage zu haben, dass Menschen, die immer geduldig und wohlwollend sind, herausragen wie Heilige. Diese Art von Beständigkeit ist bei Menschen genauso selten wie bei Hunden. Genau wie wir können Hunde müde werden, frustriert, hungrig oder ärgerlich, und genau wie wir reagieren sie nicht in jeder Minute gleich. Das Verhalten komplexer Säugetiere wird von einer riesigen Anzahl von Faktoren beeinflusst – vom Blutzuckerspiegel über Serotonin und Dopamin, Mechanismen im Gehirn und konditionierten Reaktionen bis hin zu stressreichen Begegnungen mit anderen – also tun Sie Ihrem Hund einen Gefallen und lassen Sie sich nicht von der Flexibilität seiner Reaktionen verwirren. Er wird viel mehr davon haben, wenn Sie Ihre Energie dafür verwenden, sich zu fragen, was genau ihn dazu veranlasst haben könnte, so zu reagieren anstatt perplex darüber zu sein, dass sein Verhalten variiert.
Diese natürliche Neigung, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich zu reagieren, erklärt einen riesengroßen Teil dessen, was wie »Ungehorsam« aussieht. Genau wie Schauspieler leicht ihren Text vergessen, wenn sie zum ersten Mal auf der Bühne stehen, vergessen unsere Hunde schon gelernte Lektionen, wenn wir sie in einem neuen Zusammenhang von ihnen abfordern. Aus diesem Grund verwenden professionelle Hundetrainer so viel Zeit mit dem »Sichermachen« ihrer Hunde, sie vergewissern sich, dass ihr Hund auch in neuer Umgebung gut zurechtkommt, bevor sie zu viel Leistungsdruck auf ihn ausüben. Ihr Hund wird dankbar sein, wenn Sie diesem Beispiel folgen. »Sitz« in der Küche vor dem Abendessen ist nicht das gleiche »Sitz« wie vor der Haustür, wenn draußen Gäste stehen.
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