1581 - Ekel
Lisa sah keinen fremden Menschen, und doch war sie durch dieses Geräusch geweckt worden. Und dann kam sie zu der Erkenntnis, dass sie selbst es gewesen sein musste.
Aber warum? War es die Reaktion auf einen schlechten Traum gewesen? Da kam so einiges infrage, und sie überlegte angestrengt, während sie im Bett saß und ihre Blicke durch das Schlafzimmer wandern ließ, in dem es nicht ganz dunkel war.
In der Nähe ihres Hauses stand eine Laterne, die ihr Licht durch ihr Schlafzimmerfenster warf. Sie hätte einen Eindringling sehen müssen, denn ein Versteck gab es hier für ihn nicht.
Sie hätte beruhigt sein können und war es trotzdem nicht.
Irgendetwas hatte sich bei ihr verändert, und das hatte nichts mit der Umgebung zu tun.
Es lag einzig und allein bei ihr, und das musste sie herausfinden.
Sie schob die Erinnerung an den Schrei beiseite und konzentrierte sich auf einen anderen Punkt, und der war auch bei ihr selbst zu suchen.
In ihrem Mund.
Lisa erschrak erneut.
Was sie da spürte, das kannte sie nicht. Und plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie kurz vor dem Schrei und sogar noch beim Erwachen ein starkes Gefühl des Ekels empfunden hatte.
Es war über sie gekommen wie eine gewaltige Woge, und es hatte alles mit sich gerissen.
Ja, Ekel!
Der Magen war ihr hochgekommen, und jetzt stieg das Gefühl in ihr hoch, Würgen zu müssen. Als säße etwas in ihrem llals lest, das sie nicht wegbekam. Es war schlimm.
Aliei nicht nur der Hals war in Mitleidenschaft gezogen worden, auch im Mund hatte sich etwas verändert.
Die Frau wollte wissen, was es war. Sie zwang sich zur Ruhe.
Unbeweglich saß sie in ihrem Bett, und wenig später glaubte sie, dass sie etwas im Mund hätte.
Sie bewegte ihre Zunge.
Nein, das traf nicht zu. Lisa Long hatte nur den Eindruck, dass sich ihre Zunge bewegte. Tatsächlich war es etwas anderes und auch Fremdes, das nicht durch sie gesteuert wurde.
Da war etwas in ihrer Mundhöhle, das sich selbstständig gemacht hatte, und es hing nicht mit ihrer Zunge zusammen.
Lisa erlebte einen ersten Angstschub. Dabei stieg ihr das Blut in den Kopf.
Sie hörte sich würgen. Es war schlimm. Etwas im Mund zu wissen, das nicht zu kontrollieren war. Das konnte grausam sein und auch zu Panikattacken führen.
Da drängten sich sofort die Gedanken an ein Ersticken hoch, und das wollte sie auf keinen Fall. Sie musste die Ruhe bewahren, so schwer es ihr auch fiel.
Atmen. Nur nicht zu hektisch und überhastet. Einfach nur durch die Nase Luft holen.
Lisa riss sich zusammen. Sie übte das Atmen und hatte es nach einer gewissen Zeit im Griff.
Die Veränderung in ihrem Mund allerdings war geblieben. Da war etwas vorhanden, das einfach nicht dorthin gehörte. Etwas Dickes, das sich bewegte oder einfach nur dalag, fast wie ein schleimiger Klumpen.
Sie konnte es sich nicht erklären, aber es musste eine Erklärung geben.
Nur würde sie die nicht hier im Bett finden.
Sie brauchte einen Spiegel.
Lisa Long stand auf. Wieder riss sie sich mit ungeheurer Anstrengung zusammen. Alles musste langsam gehen, nur keine Hektik.
Als sie schließlich neben dem Bett stand, hatte sich immer noch nichts verändert. Die Übelkeit verursachenden Bewegungen in ihrem Mund blieben bestehen.
Es war nicht hart, was dort steckte. Es handelte sich um einen weichen Gegenstand, der sich von einer Mundseite in die andere schob.
Wie eine blinde Person in einer fremden Umgebung verhielt Lisa sich.
Sie tappte aus dem Schlafzimmer in den kleinen Flur. Weit musste sie nicht gehen, um das Bad zu erreichen. Es befand sich an der linken Seite, nahe der Wohnungstür, die abgeschlossen war.
Der Zugang zum Bad stand spaltbreit offen. Lisa tippte die Tür an, die nach innen schwang und ihr den Weg freigab.
Sie machte Licht. Der kleine quadratische Raum wurde bis in den letzten Winkel erhellt. Das Licht war grell. Es stach in ihre Augen, aber darum kümmerte sich Lisa nicht. Sie dachte nur an das Ding in ihrem Mund, und näherte sich dem kleinen Waschbecken, über dem der Spiegel hing.
Davor hielt sie an.
Ihr Gesicht sah verquollen aus. Leicht aufgedunsen, die Wangen etwas aufgebläht, und der Mund war nicht geschlossen, weil sie von innen einen Druck verspürte.
Mit ihren Handballen stützte sich Lisa auf dem Rand des Waschbeckens ab. Sie wusste, was sie tun musste und auch wollte, doch irgendetwas hinderte sie daran. Sie fürchtete sich plötzlich davor, ihren Mund weit zu öffnen.
Dann tat sie es doch.
Nicht schnell.
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