Das Aschenkreuz
waren keine Lichtblitze mehr zu erkennen, und die krachenden Donnerschläge hatten sich in ein mehr oder weniger fernes Grollen verwandelt. Vielleicht würde sie ja doch noch eine Handvoll Schlaf bekommen.
Müde lehnte sie sich in ihrem zerschlissenen Polsterlehnstuhl zurück und stieß dabei ein verärgertes Schnaufen aus. Das alles hatte sie nur ihrer Mitschwester Adelheid zu verdanken. Eigentlich wäre die Nachtwache bei der alten Witwe deren Aufgabe gewesen, doch wieder einmal hatte Adelheid Unpässlichkeit vorgeschoben, um einer mühevollen Aufgabe zu entgehen.
Ohnehin verstand Serafina nicht, warum Mutter Catharina, als Meisterin ihrer kleinen Schwesternsammlung zu Sankt Christoffel, ausgerechnet diese Frau so häufig zur nächtlichen Krankenpflege bestimmte. Adelheid Ederlin entstammte einem der vornehmsten Freiburger Geschlechter, das einst im Silberbergbau ein Vermögen gemacht hatte, und niemand in ihrem bescheidenen kleinen Konvent konnte nachvollziehen, warum sie nicht in das erlauchte Kloster Adelhausen eingetreten war, das vor den Toren der Stadt lag. Dort hätte sie ausreichend Muße zur Lektüre ihrer mystischen Bücher gehabt oder zu ihren Stickereien und Andachtsbildchen, die indessen, wie Serafina eingestehen musste, von höchster Kunstfertigkeit waren. Ansonsten aber hielt sie Adelheid für schlichtweg faul, kein bisschen geschaffen für den Alltag in freiwilliger Armut und im Dienst am Nächsten.
Serafina hingegen gefiel ihr neues Leben hier in Freiburg, das sie erfüllte und ihr ungeahnte Freiheiten eröffnete. Als Laienschwestern ohne Klausur konnten sie sich frei in der Stadt bewegen, was auch notwendig war für ihre wichtigsten Aufgaben: So nahmen sie an Bestattungen teil, um mit ihren Gebeten und Fürbitten zum Seelenheil der Verstorbenen beizutragen, oder gingen in die Häuser zur Krankenpflege und Sterbebegleitung. Wobei Serafina der Umgang mit dem Leichnam anfangs einige Überwindung gekostet hatte.
Da mussten dem Verstorbenen zunächst die Augenlider und der Mund geschlossen werden, Ersteres aus Furcht vor dem bösen Blick, Letzteres, um die Rückkehr der Seele in den Körper zu verhindern, konnte der Tote doch sonst zu einem dämonischen Wiedergänger werden. Anschließend wurde der Leichnam sorgfältig gewaschen, mit Wasser oder in vornehmen Häusern auch mit Wein, hernach mit Spezereien eingerieben, in ein Büßerhemd oder weißes Laken eingeschlagen, aufgebahrt und zum Abschluss besprengt und beräuchert.
Für diese Dienste an ihren Mitmenschen durften sie, wenn es nicht anders ging, sogar die tägliche Morgenmesse bei den Barfüßern versäumen. Auch waren sie nicht, wie die Klosterfrauen, an feste Stundengebete gebunden – ihre zwanzig Paternoster und Ave-Maria morgens und abends konnten sie auch im Stillen, für sich, verrichten. Dies kam Serafina sehr entgegen. Obwohl sie eine gottesfürchtige Frau war, hielt sie unablässiges Beten für eine Zeitverschwendung, die der Herrgott gewiss nicht wollte. Zumal sie sich als freie Schwesterngemeinschaft selbst versorgen mussten, ganz wie in ihrem Regelbuch geschrieben stand: «Wir sind geneigt, Gott zu dienen, unser Handbrot zu leben und niemanden mit Almosen zu beschweren.» So trugen sie also mit ihrer eigenen Hände Arbeit allesamt mehr oder weniger – die gute Adelheid eher weniger – zum Unterhalt der Gemeinschaft bei.
«Ich bin überrascht, wie schnell du dich bei uns eingelebt hast», hatte ihr die Meisterin vor wenigen Tagen gesagt. Serafina musste unwillkürlich lächeln, als sie jetzt an diesen Satz dachte. Hätte sie Mutter Catharina sagen sollen, dass ihr das enge Zusammenleben mit Frauen durchaus vertraut war? So viel anders als in Konstanz war es hier nicht. Auch im Haus Zum Christoffel trafen die unterschiedlichsten Wesensarten auf kleinstem Raum zusammen. Da waren, neben der schönen, etwas dünkelhaften Adelheid, noch die frömmlerische, ewig mürrische Heiltrud, die Serafina mit ihrer langen spitzen Nase und ihren eckigen Bewegungen an einen alten grauen Storch erinnerte, die furchtsame, kränkliche Mette, die ein hartes Leben als Magd hinter sich hatte, ihre Meisterin Catharina, die in mütterlich-liebevoller Strenge das Haus zusammenhielt, und nicht zuletzt, als Jüngste im Bunde, die fröhliche, unbedarfte und ewig hungrige Grethe. Sie war ihr in diesen wenigen Wochen trotz des Altersunterschieds zu einer echten Freundin geworden.
Ja, Serafina fühlte sich wohl unter diesen Frauen, und sie genoss den
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