Das Aschenkreuz
überschaubaren, schlichten Alltag mit ihnen. Langweilig wurde es dabei nie, zumal sie und ihre Gefährtinnen bei ihren Diensten viel in der Stadt herumkamen. Und des Sonntags lud ihre Meisterin nicht selten Gäste zum Mittagessen ein: mal die Ärmsten der Armen, mal vornehme Bürgerinnen und Bürger, die ihre Sammlung unterstützten. Wobei es mit Ersteren meist weitaus fröhlicher zuging.
Das Einzige, was Serafina ein ganz klein wenig vermisste, war der Bodensee, dieses endlose Wasser, das in der Morgensonne gleich Edelsteinen glitzerte, an schönen Sommertagen tiefblau schimmerte oder sich an Wintertagen in einem Meer von Nebel verlieren konnte. Und natürlich ihr kräftiges, dunkles Haar, auf das sie immer so stolz gewesen war. Gleich nach ihrer Ankunft vor sechs Wochen hatte Grethe es ihr fast stoppelkurz geschnitten und ihr dabei mit einem mitfühlenden Lächeln eröffnet, dass dies nun viermal im Jahr geschehe. Doch waren das letztlich Kleinigkeiten. Nicht einen Tag hatte sie bislang ihren Entschluss bereut, hier in Freiburg ganz von vorne zu beginnen. Und dass niemand in dieser Stadt sie kannte, war umso besser.
Mitunter plagte sie allerdings das schlechte Gewissen gegenüber der Meisterin. Zwar hatte sie nicht ausdrücklich gelogen bei ihrer Aufnahme in die Schwesternschaft, mehr als geflunkert indessen zweifellos. So hatte sie zu ihrer Vergangenheit nur angegeben, dass sie aus einem Dorf im Radolfzeller Hinterland stamme, wo ihr Vater Schultes war – was beides stimmte –, dass sie nie verheiratet gewesen sei und ihr Brot als Hausmädchen in feinen Herrenhäusern in der Schweiz verdient habe. Zeugnisse und Papiere besitze sie leider keine, da man sie auf dem Weg nach Freiburg ausgeraubt habe. Auch das entsprach halbwegs der Wahrheit. Wohl war sie so vernünftig gewesen, sich gleich ab Konstanz einer Reisegruppe anzuschließen, doch schon in der ersten Herberge hatte man nachts ihr Bündel geklaut. Zum Glück hatte sie ihre Wertsachen in einem Täschchen um den Leib gebunden. Am Schluss hatte Mutter Catharina jene Frage nach der Ehrbarkeit gestellt, die sie eigentlich als Erstes erwartet und umso mehr gefürchtet hatte. Die Aufnahmeregel eines Schwestern- oder Beginenhauses verlangte normalerweise, dass man ein keusches und ehrsames Leben führte – wobei Ersteres naturgemäß nur einer Jungfrau oder Witwe gelang –, dazu einen guten Leumund, eine kleine Mitgift oder, falls das nicht vorhanden war, die Kenntnisse eines Handwerks aufweisen konnte. Bis auf die Mitgift hatte sie nichts davon zu bieten, und so redete sie sich in einem wahren Wortschwall heraus, während sie ihr kleines Vermögen, das sie angespart hatte, aus dem Gürtel zog. Sprach umständlich davon, wie entschlossen sie sei, ein gottgefälliges Leben zu führen, im Sinne der Nächstenliebe und Caritas, und kam schließlich auf den Grund zu sprechen, warum sie gerade die Sammlung zu Sankt Christoffel aufgesucht habe: Weil sie nämlich hoffe, auf ihre Kindheitsfreundin Ursula zu treffen, die hier, nachdem sie kinderlos zur Witwe geworden war, Aufnahme gefunden habe.
An jener Stelle hatte die Meisterin sie unterbrochen. Leider habe sich Ursula ein Jahr zuvor die Rote Ruhr geholt und sei daran gestorben. Hierüber war Serafina in ehrlicher Erschütterung in Tränen ausgebrochen, sodass Catharina sie tröstend in die Arme gezogen und das Gespräch seinen Abschluss gefunden hatte. Auf diese Weise hatte die traurige Wendung ihrer Unterredung Serafina eine Enthüllung erspart, die ihr mit Sicherheit die Aufnahme bei den Schwestern verwehrt hätte: Dass sie nämlich Mutter eines unehelichen, halberwachsenen Sohnes war.
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Kapitel 2
D as laute Klopfen unten an der Haustür ließ Serafina aus dem Schlaf auffahren, den sie am Ende trotz ihrer Grübeleien doch noch gefunden hatte. Sogar einen wunderschönen Traum hatte sie gehabt, von einer sommerlichen Kahnfahrt an den Ufern des Bodensees.
Sie streckte ihre steifen Glieder. Das musste Grethe sein, die sie ablösen kommen sollte. Bestimmt hatte sie wieder einen riesigen Korb mit Verpflegung dabei, um nicht zu verhungern bis zum Abend.
Prüfend betrachtete sie die Kandlerin. Sie atmete mit geschlossenen Augen und entspanntem Gesicht ruhig vor sich hin. Als es erneut gegen die Tür schlug, war Serafina schon auf dem Weg nach unten.
«Immer langsam mit den jungen Pferden», rief sie, während sie den Riegel zurückschob.
Vor ihr stand Grethe, wie erwartet mit einem
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