Das Aschenkreuz
sich da herum, nährten sich von dem stinkenden Unrat, den die Leute immer wieder heimlich hier abluden. Eigentlich hätte hier ein neuer Hochchor, mit Chorumgang und Kapellenkranz, entstehen sollen, vor etlichen Jahrzehnten schon. Doch die Große Pest und der Freikauf von den ungeliebten Grafen von Freiburg hatten die Stadt und ihre Bürger einst wirtschaftlich an den Rand des Abgrunds getrieben und belasteten sie bis heute.
Serafina beschleunigte ihren Schritt, sodass der Schlamm unter ihren Schuhen nur so spritzte. Die Kräuterfrau Gisla wohnte in der Schneckenvorstadt, gleich hinter dem Spitalbad. Inzwischen vermochte Serafina in dieser Stadt an ihr Ziel zu gelangen, ohne stundenlang in die Irre zu gehen. Führten doch längst nicht alle Gassen gradlinig auf die beiden Hauptstraßen zu, die Freiburg wie ein Kreuz durchschnitten.
Allmählich erwachte die Stadt. Die Handwerker öffneten ihre Läden, Taglöhner und Knechte machten sich auf den Weg zur Arbeit, die ersten Ziegen und Rinder wurden zwischen kläffenden Kötern hindurch auf die Viehweide vor der Stadt getrieben. Kurz vor dem Untertor ließ ein schriller Pfiff Serafina zusammenfahren. Es war Barnabas, der Bettelzwerg, der sich auf diese Weise bemerkbar zu machen pflegte.
«Du meine Güte – hast du mich verschreckt.»
Der kleine Kerl mit den stämmigen krummen Beinchen und dem riesigen Kopf, wie immer in ein buntscheckiges Meer von Flicken gekleidet und mit einer viel zu kleinen Filzkappe auf dem struppigen Haar, zupfte heftig an ihrer aschgrauen Tracht. Für gewöhnlich begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung und sprach sie mit «schöne Frau Serafina» an, was sie innerlich jedes Mal zum Schmunzeln brachte. Heute jedoch zitterte er am ganzen Leib.
«Was hast du denn? Du bist ja völlig außer dir!»
Ohne ein Wort herauszubringen, wies Barnabas in Richtung Abtsgasse. Sie schüttelte den Kopf.
«Nein, Barnabas, ich hab es eilig. Zeig mir, was du mir zeigen willst, ein andermal.»
«Ddder To-Tod! – Im Holz! – So grrroße Au-augen!»
Wie immer, wenn Barnabas aufgeregt war, brachte er entweder gar nichts heraus oder stotterte zusammenhangloses Zeugs. Jetzt erst fiel Serafina auf, dass alles, was so früh schon unterwegs war, in Richtung dieser Gasse strömte.
Unwillig ließ sie sich von ihm mitziehen. Sie mochte Barnabas, der ihr in der kurzen Zeit hier in Freiburg ans Herz gewachsen war, und sein absonderliches Wesen machte ihr auch keine Angst, erinnerte er sie doch an den Dorfnarren aus ihrer Kinderzeit. Doch manchmal konnte er einem schon gehörig zur Last fallen.
Die Menschen vor ihnen bogen allesamt hinter dem Haus Zum Grünen Wald in das brachliegende Grundstück ein, von dem es hieß, dass es dort des Nachts spuke. Jetzt allerdings drangen von dem mit Bäumen und Sträuchern überwucherten Ort keine Geisterrufe herüber, sondern gedämpftes Schreckensgemurmel. Als die Menge ihrer Schwesterntracht gewahr wurde, gab man ihr den Weg frei bis vor das Tor einer schmalen Scheune, die verlassen und verfallen an der Stadtmauer lehnte.
Serafina hatte schon so einiges gesehen in ihrem Leben, doch der Anblick, der sich ihr dort bot, fuhr ihr tief ins Herz. Am Querbalken des offenen Tores war ein grober Strick befestigt, und daran baumelte, nur einen Schuh hoch über der Erde, der Leichnam eines sehr gut gekleideten jungen Burschen von höchstens fünfzehn Jahren. Die Zunge hing ihm blaurot geschwollen aus dem Mund, die Augen hatte er weit aufgerissen, die Finger zu Fäusten gekrampft. Das Merkwürdigste aber: Auf seine hohe, helle Stirn war ein Aschenkreuz geschrieben, als Zeichen der Schuld. Ganz offensichtlich hatte sich der Junge selbst aufgeknüpft.
Keiner der umstehenden Gaffer wagte es, sich auf mehr als Armeslänge dem Toten zu nähern. Serafina schlug das Kreuzzeichen und sprach ein stilles Gebet, während sie voller Mitgefühl die sterbliche Hülle des Jungen betrachtete. Zu Lebzeiten musste er ausnehmend hübsch gewesen sein, mit seinen feinen, fast mädchenhaften Gesichtszügen.
Sie wandte sich um. «Warum holt ihn keiner dort runter?»
Verständnislos glotzten die Leute – einfache Handwerker, Knechte und Mägde – sie an. Dabei wusste sie selbst die Antwort. Einen Selbstmörder vom Strang zu schneiden brachte nämlich Unglück. Serafina allerdings hielt das für dummes Zeug.
Hilfesuchend blickte sie von einem zum andern, als sie in einiger Entfernung drei Männer in den Weißkutten der Wilhelmiten an der Brache
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